Wie fotogen ist der Kanzler? Olaf Scholz testet es aus, inspiriert von den Instagram-Helden im grünen Lager. Im Turbinen-Gate rund um Nord Stream 1 steigt er vor Ort bei Siemens Energy in Putins Propagandaschlacht ein.
Wenige Tage später sieht ihn das Volk an der Wasserstofftanke, bei der Fußballnationalelf der Frauen – und am Hauptsitz von Heizungsikone Viessmann. Dort geht’s um Klimaschutz, Wärmepumpen und den Kanzler, der sich an vorderster Front um die Fragen der Zeit kümmert, so die Botschaft.
Was Bürgerinnen und Bürger auf diesen Bildern nicht sehen, sind die fünf Buchstaben des Grauens, die Scholz einfach nicht los wird – wie einen alten Kaugummi am Schuh. Sie stehen für den größten Steuerskandal in der Geschichte Deutschlands. Die Affäre rund um Aktiengeschäfte, Dividenden und zu viel gezahlte Steuerrückerstattungen kostete viele Banker bereits ihre Karriere. In Hamburg dreht sich alles um die Tricks der Privatbank M. M. Warburg, eine verjährte Steuerschuld – und die fragwürdige Rolle der SPD und des Kanzlers.
Schneller schlau: Cum-ex-Geschäfte
Bei den auch „Dividendenstripping“ genannten Geschäften geht es um den raschen Kauf und Verkauf von Aktien rund um den Dividendenstichtag, um Kapitalertragssteuern mehrfach vom Fiskus erstattet zu bekommen. Am Tag vor der Dividendenzahlung ist diese im Aktienkurs mit eingepreist. An der Börse spricht man von einem Kurs „cum Dividende“.
Am Tag nach der Ausschüttung, in der Regel einen Tag nach Hauptversammlung, die die Dividendenzahlung beschließt, ziehen die Börsenbetreiber die Dividende vom Kurs ab, das heißt die Aktie wird „ex Dividende“ gehandelt. Von Banken bekamen die Aktienkäufer und -verkäufer eine Bestätigung, die Kapitalertragsteuer abgeführt zu haben, was sie beim Fiskus mehrfach steuerlich geltend machten - obwohl sie so nicht gezahlt hatten.
Ein Beispiel: Die Banken verkaufen die Aktien leer an einem „cum“-Tag, müssen sie aber wegen der Börsenregelungen erst nach zwei Tagen an den Käufer liefern. Sie beschaffen sich die Papiere also nach dem Dividendenstichtag zum „ex“-Preis – also ohne Dividende – von einem Dritten und liefern diese Aktien an den Käufer. Dabei parallel abgeschlossene Kurssicherungsgeschäfte, die Risiken ausschließen, sichern den Gewinn aus der Transaktion.
Papiere werden rund um den Dividendenstichtag – meist der Tag der Hauptversammlung – schnell hintereinander ge- und wieder verkauft. Leerverkäufer verdienen, wenn der Aktienkurs bis zum Liefertermin gefallen ist und sie so die Aktien billiger kaufen können, als sie sie verkauft haben.
Generell wird auf die gezahlte Dividende Kapitalertragssteuer fällig. Im geschilderten Konstrukt ließen sich sowohl der Käufer als auch der jeweilige Dritte, von dem sich die Banken die Aktien beschafft hatten, die Kapitalertragsteuer vom Finanzamt erstatten. Die Finanzämter zahlten so mehr Steuern zurück, als sie zuvor eingenommen hatten.
Im Wesentlichen nutzten Banken und Profianleger wie Fonds oder Börsenhändler den Steuertrick mittels Dividendenstripping.
Für Privatanleger sind Cum-ex-Geschäfte zu aufwendig, zumal es sich bei kleinen Anlagesummen kaum rechnet. Sie hätten nur geringe bis keine Chancen gehabt, an solchen Deals zu verdienen.
Banken und Investoren nutzten bestimmte Eigenheiten der Abwicklungssysteme an den Börsen, aber auch steuerrechtliche Besonderheiten – und das offensichtlich über Jahre hinweg und mit Wissen von Bund, Ländern und Finanzbehörden. So erklärte der Bundesfinanzhof das Dividendenstripping bereits in einem Urteil aus dem Jahr 1999 für grundsätzlich rechtens. Geschlossen wurde das Schlupfloch aber erst 2012 durch eine Neuregelung der Nachweispflichten.
Olaf Scholz muss schon wieder in einem Untersuchungsausschuss aussagen, sofern ihm nicht erneut seine taktische Demenz dazwischenkommt. Der peinliche Auftritt wäre ihm allerdings erspart geblieben, wenn einst das Staatshandeln in Qualität und Geschwindigkeit nicht neue Negativrekorde aufgestellt hätte. Ein schlecht gebautes Gesetz brachte alles in Rollen. Wer es als Aktieninvestor rund um den Dividendenstichtag richtig machte, zahlte einmal die Kapitalertragsteuer und bekam sie zweimal zurück.
Bereits am 20. Dezember 2002 informierte der Bundesverband der Banken das Bundesfinanzministerium über diese Praxis. Erst vier Jahre später handelte das BMF – im Inland. Übers Ausland ging das Spielchen munter weiter, ausgerechnet dank Scholz’ Parteikollege Peer Steinbrück, damals Finanzminister.
Es ist nicht die einzig schlecht gemachte Regulierung, die Skrupellose ausnutzen. Immer wieder bieten sich lukrative Lücken, wie zuletzt etwa bei den Coronatestzentren. Warum also klopft der Staat seine Regeln nicht vorab auf Einfallstore für Kriminelle ab? Jede Firma lässt Hacker auf das eigene Netzwerk los, um Schwachstellen herauszufinden. Ähnlich könnte im Gesetzgebungsprozess ein Anti-Mafia-TÜV funktionieren. Das Aufwand-Ertrag-Verhältnis dürfte grandios sein. Bei Cum-ex hätte es dem Steuerzahler einen Verlust von rund zehn Milliarden Euro erspart – und Scholz unvorteilhafte Bilder.
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