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„Sie können nicht mit einem Tiger als Haustier leben“, sagt der neue Gesundheitsminister Karl Lauterbach, hier bei einem Impftermin in Hannover. Mit dem Virus gut zu leben wird nach seiner Überzeugung nur gelingen, wenn der allergrößte Teil der Bevölkerung geimpft ist. Quelle: REUTERS

Der Tiger wird unser neues Haustier

Beat Balzli
Beat Balzli Ehem. Chefredakteur WirtschaftsWoche Zur Kolumnen-Übersicht: Balzli direkt

Pandemien aller Art sind die Kollateralschäden der Vernetzung. Wir müssen sie als Fortschrittsbeschleuniger begreifen. Eine andere Wahl haben wir nicht.

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Wer kennt noch Siegfried und Roy? Sie gelten in Las Vergas als die Legenden aus Deutschland. Jahrelang sorgen die Dompteure in der Spielerstadt für ausverkaufte Shows. Sie setzen kein Geld auf Zahlen, sondern ihr Leben auf Vertrauen. Das Vertrauen darauf, dass sie ihre Tiger und Löwen gut genug kennen, um mit ihnen hautnah zu arbeiten. Sehr lange läuft das ohne Zwischenfälle – bis ein Tiger Roy angreift und schwer verletzt. Der Vorhang fällt.

Vielleicht hat Gesundheitsminister Karl Lauterbach auch diese Szene im Hinterkopf, wenn er die Bekämpfung der Coronapandemie neuerdings mit tierischen Metaphern unterlegt. Mit dem Virus gut zu leben wird uns nach seiner Überzeugung nur gelingen, wenn der allergrößte Teil der Bevölkerung geimpft ist. „Sie können nicht mit einem Tiger als Haustier leben“, bringt es der Serien-Talkshow-Gast auf den Punkt.

Es steht außer Frage, dass für den erfolgreichen Kampf gegen die Pandemie eine hohe Impfquote zu den Grundvoraussetzungen gehört. An einer faktischen Impfpflicht führt kein Weg vorbei, indem Ungeimpften ein möglichst unkomfortabler Alltag den Weg zur Nadel erleichtert. Eine harte Impfpflicht – mit Ausnahme der medizinischen Berufe – widerspricht dagegen einem liberalen Gedankengut.

Trotzdem müssen wir künftig mit dem Tiger leben. Lauterbachs Aussage ist der verständliche Versuch, der Bevölkerung die Perspektive einer sicheren Zukunft zu vermitteln. Das kann nur scheitern. Nach dem Virus ist vor dem Virus. Je mehr sich eine moderne und globale Gesellschaft vernetzt, umso größer der Nutzen durch Freihandel, Know-how-Transfer, Effizienzgewinne, Frieden und kulturellen Austausch – und umso anfälliger das Netzwerk für Pandemien aller Art, gefährlich für Menschen, Logistik und Computer. De-Growth, De-Globalisierung, De-Coupling oder wie die Defensivstrategien alle heißen, sie sind auf lange Sicht keine Lösung.

Wir müssen Pandemien als Fortschrittsbeschleuniger begreifen, die auf Feldern wie Medizin, Krisenmanagement oder Softwareengineering Innovationen fördern – so hart das angesichts der tragischen Opfer klingen mag. Sie machen den Tiger weitgehend beherrschbar. Eine andere Wahl haben wir nicht. Ja, der Steinzeitmensch wird in seiner Höhle weder gehackt noch infiziert. Aber Netflix macht nun mal mehr Spaß, als auf die Keule gestützt ins Feuer zu glotzen und zu frieren. Ohne Restrisiko gibt es kein Weiterkommen. Das wussten auch Siegfried und Roy.

Mehr zum Thema: FDP-Parteivize Kubicki stemmt sich im Bundestag gegen die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht. Sein Einspruch ist wichtig. Die Debatte braucht Zeit. Zu schwer wiegen die Einwände. Und Omikron ändert ohnehin alles.

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