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Nach Silvester sind ja auch nicht alle schlank

Beat Balzli
Beat Balzli Ehem. Chefredakteur WirtschaftsWoche Zur Kolumnen-Übersicht: Balzli direkt

Alle möglichen Experten prophezeien für die Post-Corona-Zeit die Neuerfindung von Mensch und Markt. Doch das ist naiv – und vor allem unbezahlbar.

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Nichts wird mehr so sein, wie es einmal war. Kaum eine Phrase steht so exemplarisch für die Ratlosigkeit der Menschen in der dunkelsten Stunde. Das ist jener Zeitpunkt, an dem keiner mehr weiterweiß – und einige es trotzdem behaupten. Dann schlägt die Stunde der Ad-hoc-Propheten, die nichts weniger als die Neuerfindung von Mensch und Markt vorhersagen.

Die aktuelle Notlage macht da keine Ausnahme. Nach dem Coronakoma wachen wir in einem neuen Zeitalter auf, behauptet das Heer der Orakel und befriedigt nicht zuletzt die kollektive Sehnsucht nach einer vermeintlich besseren Welt. Darin wird der entschleunigte Mensch achtsamer, das Homeoffice zur neuen Religion, der Raubtierkapitalismus zum staatlich gelenkten Bettvorleger, die globalen Lieferketten demontiert und klimaschonend nach Hause verlegt – obwohl sich weder Konsumenten noch Firmen die Kosten für die heimische Produktion leisten können, schon gar nicht in einer Mammutrezession.

Doch dieses Szenario scheint ungefähr so realistisch wie die Erwartungen der Deutschen nach dem alljährlichen Christmas-Lockdown. Im neuen Jahr wird ja nicht alles anders, besser – oder schlanker. Und so dürfte auch der videokonferierende Toilettenpapier-Hamster mehr oder weniger der alte bleiben, ebenso wie sein Gehege.

von Benedikt Becker, Sven Böll, Sophie Crocoll, Max Haerder, Cordula Tutt

Zweifellos kommt es zu Veränderungen in Job, Freizeit und Beschaffungsstrategien. Vor allem im medizinischen Bereich braucht es mehr Vorrats- und Heimatdenken. Aber für eine historische Zäsur, die alle Verhaltensweisen und Strukturen komplett auf den Kopf stellt, fehlt der Coronakrise das Potenzial. Die Vergleiche mit traumatischen Erfahrungen wie einem Krieg oder der Spanischen Grippe führen in die Irre. Wir befinden uns in einer ruinösen Zwangspause, doch weder sind die Produktionsstrukturen wie nach einem Weltkrieg zerstört noch 50 Millionen Menschen gestorben.

Das Virus SARS-CoV-2 ändert die großen Trends nicht, geschweige denn dreht es sie um, schreibt Harvard-Mann Dani Rodrik in Bezug auf den Vormarsch populistischer Autokraten, defensive Neoliberale oder den Kampf zwischen den USA und China. Rodriks Erkenntnis gilt auch anderswo. Kaum hat Peking die Ausgangssperre gelockert, stürmen die Chinesen Autohäuser und Ausflugsziele. Und in Duisburg kommen Güterzüge aus Wuhan an. Einiges ist schon wieder so, wie es einmal war.

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Selbst wenn der Coronastillstand bald beendet ist: Die Wirtschaft wird noch lange leiden. Deshalb braucht es wohl bald ein großes Konjunkturprogramm – ohne die Fehler der Vergangenheit.

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