Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache, und es ist keine, die Hoffnung weckt. Von rund 12.300 Kilometern Stromleitungen, die in Deutschland unbedingt errichtet werden sollen, sind bisher erst knapp über 2000 fertig gestellt. Weitere 751 Kilometer befinden sich laut jüngstem Monitoringbericht der Bundesnetzagentur republikweit im Bau oder sind immerhin genehmigt. Der übergroße Rest allerdings steckt irgendwo zwischen Genehmigungs-, Planfeststellungs- und Raumordnungsverfahren fest – verheddert im deutschen Mischwald der Bürokratie.
Und damit nicht genug. Rund drei Gigawatt (GW) Windkraftleistung müssten entsprechend der deutschen Ziele in diesem Jahr ans Netz gehen. Stand heute sind es: 0,79 Gigawatt. Bei Solaranlagen ist das 7-GW-Ziel Ende September gerade mal zur Hälfte erreicht. Und neue Offshore-Windanlagen sind in 2022 bisher überhaupt nicht in nennenswerten Umfang installiert worden. Energiewende? Gerade sieht es eher nach vorläufigem Ende aus.
Auch die Wirtschaftsweise Veronika Grimm verweist immer wieder warnend darauf, dass der Ausbau der Erneuerbaren deutlich langsamer geschehen könnte als von der Regierung erhofft – trotz verschiedener Beschleunigungsversuche. Es geht, kurzum, zu wenig voran.
Kein Wunder, dass BDI-Präsident Siegfried Russwurm heute zum Auftakt des BDI-Klimakongresses in Berlin diesen Satz sagte: „Der Weg zur Klimaneutralität war schon vor der Energiekrise eine Mammutaufgabe.“ Die Politik, so der Industrieboss weiter, habe bei ihren Strategien zu wenig bedacht, welche Rahmenbedingungen es brauche, um die notwendigen Investitionen sicherzustellen. „Jetzt braucht es eine Doppelstrategie aus Maßnahmen zur Bewältigung der Energiekrise und einer Intensivierung der Investitionen in den Klimaschutz“, forderte Russwurm. „Wirtschaft und Energieversorgung müssen krisenfest und resilienter gemacht werden.“
Leichter gesagt als getan. Zwar hat Wirtschaftsminister Robert Habeck gleich zu Beginn seiner Amtszeit ein ganzes Bündel an Vorhaben geschnürt, mit dem die Energiewende wieder Tempo aufnehmen soll, dazu neue Förderinstrumente wie die Klimaschutzverträge aufgesetzt. Doch Oster- und Sommerpaket aus seinem Ressort wirken noch nicht – dass es noch dauern wird, bis sie Wirkung zeigen, ist nicht zuletzt dem grünen Vizekanzler selbst schmerzhaft bewusst. Zumal er bei der dringend nötigen Planungsbeschleunigung noch auf die Hilfe seiner Kabinettskollegen angewiesen ist.
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Der BDI-Chef trifft also einen neuralgischen Punkt: Die Geschwindigkeit der Wende den Erfordernissen des Klimaschutzes (und den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes) anzupassen, war schon vor dem Ukrainekrieg ein waghalsiges Unterfangen. Nun wirkt es so gut wie unerreichbar. Das liegt nicht nur an der unerwarteten und klimapolitisch unerwünschten Renaissance der Kohle, sondern auch an der Rolle, die den Gaskraftwerken bisher für die kommenden zwei Jahrzehnte zugeschrieben worden war: Sie sollten die flexible (und vergleichsweise CO2-arme) Ergänzung zu Sonne und Wind bieten.
Doch nun dürfte diese Strategie auf Jahre hinaus deutlich teurer werden als kalkuliert, weil russisches Pipeline-Gas nicht mehr Teil der Lösung ist. Die Verstaatlichung weiter Teile des Gashandels – erst Uniper, nun auch die Gazprom-Germania-Nachfolgerin Sefe – offenbart, dass an Regelbetrieb und Marktwirtschaft auf lange Sicht kaum zu denken sein wird. Weitere Eingriffe in den Strom- und womöglich in den Gasmarkt stehen ja erst noch bevor. Auch das koalitionäre Gezerre um die Gasumlage dauert an. Sicherheit schafft das alles nicht.
Auf den Standort kommt also kein Stresstest zu, sondern gleich mehrere mehrere. Für die Industrie, mahnt der BDI, zählten nun besonders verlässliche Investitionsanreize und wirtschaftlich machbare Anforderungen. „Die Dekarbonisierung darf nicht zur Deindustrialisierung führen, sondern muss zur Erneuerung des Industriestandorts Deutschland beitragen“, sagte Russwurm.
Aber wie? Im Bundeswirtschaftsministerium wird neben den akuten und teilweise umstrittenen Hilfsprogrammen auch bereits über neue Instrumente nachgedacht. Eines, das dort jüngst vom Düsseldorfer Ökonomen Jens Südekum ins Spiel gebracht wurde, trifft offenbar auf besonderes Interesse der Hausspitze.
Das bleibende Problem laute doch so, sagt Südekum: Wie gelinge diese Transformation in Unternehmen, die bereits durch die Pandemie in ihrer Substanz geschwächt und teilweise bereits mit viel Kredit belastet seien? „Da lohnt ein Blick in die USA“, meint der Ökonom: „Dort wurden Kredite gewährt, die später aber teilweise in Zuschüsse gewandelt wurden. So ein Instrument ist für Unternehmen weniger abschreckend und die Politik kann sicherstellen, dass der Schuldenerlass an bestimmte Unternehmensziele – etwa Investitionen in klimafreundliche Technologien – geknüpft ist.“ Ob Habeck den Vorschlag aufgreifen wird, bleibt abzuwarten.
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