Die deutsche Regierung kämpft sich seit Wochen durch eine Krise, doch die Finanzmärkte reagieren kaum. Wie kann das sein?
Deutschland geht es so gut, dass wir uns wirtschaftlich gesehen sogar eine Regierungskrise leisten können. Es gibt kein ökonomisches Problem, das akut gelöst werden müsste. Hinzu kommt, dass die Streitpunkte zwischen den Parteien keine wirtschaftlich relevanten Fragen betreffen. Ob Asylbewerber, die schon in Italien registriert sind, direkt an der Grenze zurückgeschickt werden oder möglicherweise erst nach einem längeren Verfahren, hat praktisch keinerlei Konsequenzen für die deutsche Wirtschaft.
Ist es also letztlich egal, wer Deutschland gerade regiert – oder ob es überhaupt regiert wird?
Es ist natürlich nie ganz egal, wer das Land regiert. Aber in Deutschland sind die politischen Ränder wie die AfD oder die Linkspartei, also die mit einer komplett anderen wirtschaftlichen Agenda, weiterhin relativ klein im internationalen Vergleich. Das Risiko, dass nach einer politischen Krise die politischen Ränder bei uns die Politik bestimmen könnten, ist zum Glück praktisch null. Und die anderen großen Parteien sind in Wirtschaftsfragen hinreichend nah beieinander, dass keine Koalition, die in Deutschland denkbar ist, eine wirtschaftspolitische Revolution bedeuten würde.
Wirtschaftspolitisch herrscht seit Monaten Stillstand, trotzdem laufen Finanzmarkt und Konjunktur auf sehr hohem Niveau. Es wirkt fast, als gehe es der Wirtschaft besser, wenn niemand hineinregiert.
In gewissem Sinne stimmt das sogar. Dem Land geht es gut. Die Chance, dass durch wirtschaftspolitisches Handeln etwas erheblich besser wird, ist leider gering. Das Risiko, dass sich durch wirtschaftspolitisches Handeln hingegen etwas verschlechtert, ist durchaus vorhanden. Deshalb ist eine Periode, in der das Land ordentlich verwaltet wird, aber nicht kraftvoll in die eine oder andere Richtung gesteuert wird, aus wirtschaftlicher Sicht durchaus verkraftbar. Natürlich hat Deutschland auf Dauer erheblichen Reformbedarf, beispielsweise bei Pflege, Rente oder Digitalisierung. Aber erstens gehen würde wirtschaftspolitisches Handeln gerade bei der Rente wohl bedeuten, dass zusätzliche Belastungen für die Wirtschaft geschaffen werden. Und zweitens sind diese Probleme nicht so akut, dass sie nicht noch ein paar Monate warten könnten.
Könnte die Regierungskrise so eskalieren, dass es die Märkte erschüttert? Oder sind tatsächlich alle Optionen schon eingepreist?
Nachhaltige Auswirkungen auf unsere Finanzmärkte sehe ich aktuell nicht. Aber die Folgen einer politischen Instabilität in Deutschland wären möglicherweise auf europäischer Ebene sichtbarer als in Deutschland selbst. Ob es jetzt einige Reformen der Eurozone oder der EU gibt, ist für Deutschland relativ unwichtig. Für Italien etwa ist es möglicherweise von größerer Bedeutung.
Was könnte passieren? Erste Beobachter orakeln, dass der Euro scheitern könnte.
Nein, der Euro als solches steht nicht auf dem Spiel. Was aber im Extremfall auf dem Spiel stehen könnte, ist die Mitgliedschaft Italiens im Euro. Zwar halte ich einen Euro-Austritt Italiens für sehr unwahrscheinlich. Doch so merkwürdig es klingen mag: Italien ist durch die Auswirkungen einer politischen Krise in Deutschland gefährdeter als Deutschland selbst. Theoretisch könnte ein ausufernder Streit mit Italien über Migration dort radikalen Euro-Gegnern Auftrieb geben. Die Finanzmärkte könnten dann unruhiger werden.
Die Reaktionen auf die Unions-Einigung im Asylstreit
„Ein Auseinanderbrechen der deutschen Regierung, knapp 100 Tage nach ihrem Amtsantritt, wurde zwar fürs Erste verhindert, aber die Spannungen innerhalb des Regierungslagers sind damit keineswegs aus dem Weg. Dies schadet Deutschland nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich. Diese Spannungen schädigen die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung - und dies gerade in Zeiten, in denen diese viele wichtige Entscheidungen treffen muss. Die Krise schafft eine enorme Unsicherheit für die Wirtschaft, was bereits jetzt zu einem Rückgang der Investitionen und des Wirtschaftswachstums beiträgt. Die Spannungen zwischen den Regierungsparteien schaden nicht nur Deutschland, sondern auch Europa, da die Glaubwürdigkeit der deutschen Regierung und der Bundeskanzlerin dadurch beschädigt wird“, so Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin).
„Die große Koalition muss endlich aus dem Krisenmodus der vergangenen Wochen herausfinden und ihrer Verantwortung für das Land gerecht werden. Die Flüchtlingsfrage ist bei weitem nicht das einzige Problem“, sagt Mario Ohoven, Präsident des Bundesverbands Mittelständischer Wirtschaft (BVMW). „Denn: Die Konjunktur trübt sich bedenklich ein, bei der Digitalisierung liegen wir deutlich zurück, der Fachkräftemangel kostet Wachstum und die aufkommenden Handelskonflikte bedrohen unsere Exporte. Auch auf europäischer Ebene stehen große Aufgaben an, wie der Brexit. Angesichts dieser Herausforderungen braucht Deutschland dringend eine handlungsfähige, stabile Regierung.“
„Aus wirtschaftlicher Sicht ist es zunächst erfreulich, dass die Regierungskrise überwunden scheint. Doch es bleibt erschreckend, wie wenig an inhaltlicher Substanz dazu gehört, eine derartige Krise auszulösen. All dies sind Menetekel eines Verfalls des politischen Systems, wie wir es kennen. Insofern bleibt die Unsicherheit trotz lautstarker Kompromissverkündung letztlich bestehen. Deutschland und Europa gehen ungewissen Zeiten entgegen“, sagte Gustav Horn, Leiter des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung.
„Eine europäisch koordinierte Asylpolitik hat ökonomische Vorteile. Im Konflikt um die deutsche Asylpolitik stand die Frage im Mittelpunkt der politischen Debatte, ob das Land die Ziele seiner Asylpolitik auch im nationalen Alleingang erreichen könnte. Abgesehen von den Kosten von Grenzkontrollen im Binnenmarkt, trägt eine funktionierende europäische Flüchtlingsaufnahme zur Stabilisierung überlasteter Staaten wie Libanon und Jordanien bei. Diese Stabilisierung ist auch von erheblichem ökonomischen Nutzen für Europa. Hinzu kommt, dass ein europäischer Ansatz den EU-Mitgliedstaaten eine Versicherung gegen hohe Kosten zukünftiger neuer Flüchtlingskrisen bieten kann“, meint Friedrich Heinemann, Ökonom am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim.
Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds, Reiner Hoffmann, kritisiert die von der Union angestrebten Transitzentren. Diese würden „kaum die Lösung sein“, sagt er dem Wirtschaftsnachrichtenportal Business Insider. „Es ist dringend notwendig, dass die Fluchtursachen endlich wirksam bekämpft werden.“
„Ich begrüße die Einigung von CDU und CSU ausdrücklich und hoffe, dass die Koalition dies jetzt aber auch sehr zügig mit der erforderlichen Rechtssicherheit umsetzt“, sagte Gewerkschaftschef Ernst Walter dem „Handelsblatt“. Er sei außerdem „sehr froh“ darüber, dass CSU-Chef Horst Seehofer „Haltung gezeigt hat, nicht zurückgetreten ist und weiter unser Innenminister bleibt“.
Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) bewertete die geplante Einrichtung von Transitzentren für Flüchtlinge an der deutsch-österreichischen Grenze skeptisch. „Das ist ein alter Hut“, sagte der stellvertretende Gewerkschaftsvorsitzende Jörg Radek der „Mitteldeutschen Zeitung“. Auch beschränke sich das Vorhaben nur auf die deutsch-österreichische Grenze. Radek fügte hinzu: „Meine Befürchtung ist, dass der Grenzschutz zur Symbolpolitik missbraucht wird. Das gilt auch für Transitzentren.“
Die SPD zeigt sich offen für den Einigungsvorschlag der Union, sieht laut Fraktionschefin Andrea Nahles aber noch „erheblichen Beratungsbedarf“. Die von der Union geforderten Transitzentren für Flüchtlinge an der deutsch-österreichischen Grenze seien „nicht derselbe Sachverhalt, nicht dieselbe Gruppe“ wie auf der Höhe des Flüchtlingszuzugs 2015/2016, sagt Nahles nach einer Fraktionssitzung in Berlin. „Deshalb lehnen wir den Begriff auch ab.“
Die von CDU und CSU vereinbarten Regeln läuten aus Sicht der AfD keine Trendwende in der Asylpolitik ein. Parteichef Jörg Meuthen sagte der Deutschen Presse-Agentur, Seehofer habe von der CDU „nur ungedeckte Schecks erhalten“. Deutschland werde sich auch in Zukunft schwer damit tun, Asylbewerber, die einmal die Grenze passiert haben, wieder außer Landes zu bringen. Auch durch die Unterbringung in grenznahen Transitzentren von Menschen, die eigentlich in einem anderen EU-Land ihr Asylverfahren durchlaufen müssten, werde dieses grundlegende Problem nicht gelöst. Er könne sich zudem nicht vorstellen, dass die österreichische Regierung eine Zurückweisung von Ausländern an der Grenze akzeptieren werde, sagte Meuthen.
Die Grünen haben den Kompromiss massiv kritisiert. Der Vorsitzende Robert Habeck sieht darin einen Aufguss alter Ideen: „CDU und CSU haben einen Vorschlag von 2015 rausgekramt und verkaufen das als Einigung“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. „Diesen alten Kram kippen sie nun der SPD vor die Füße und sagen: Super, das ist es jetzt. Dabei hat die SPD Transitzonen explizit als Massenlager abgelehnt. Arme SPD.“ Nach dem „Theater“ der vergangenen Wochen, mit dem Deutschland und Europa destabilisiert worden seien, „ist das einfach hanebüchen.“ Habecks Amtskollegin auf dem Parteivorsitz, Annalena Baerbock, nannte in der Nacht zu Dienstag die geplanten Transitzentren „Internierungslager“. Die Union „verabschiedet sich vom Wertekompass unseres Landes“, schrieb sie im Internetdienst Twitter. „Einen Innenminister zu halten, der sein Amt für CSU-Rechtsruck missbraucht, ist kaum zu ertragen.“
Von der Linkspartei kommt Kritik: „Der Machtkampf in der Union ist an Peinlichkeit kaum zu überbieten“, erklären die Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger. „Nach dem Rücktritt vom Rücktritt belohnt Bundeskanzlerin Merkel das Schmierentheater der CSU mit weiteren Zugeständnissen und rückt damit die Politik weiter nach rechts.“
Nun ist ja nicht nur die Lage in Europa instabil. Weltweit nimmt die Unsicherheit zu, wir schlittern geradewegs in einen Handelskrieg. Wie kommt es, dass selbst das kaum Auswirkungen hat?
Gewisse Bremsspuren des Handelsstreits sehen wir schon. Das Geschäftsklima hat sich sichtbar eingetrübt. Wir haben zudem eine Korrektur an den Finanzmärkten. Dramatisch würde ich das aber nicht nennen. Die wirtschaftliche Expansion hatte voriges Jahr ein so hohes Tempo erreicht, dass das Abbremsen nur dazu führt, dass wir jetzt mit normaler Geschwindigkeit weiterfahren. Bisher ist im Handelskonflikt zum Glück noch wenig passiert. Es sind kaum Zölle verhängt worden. Aber die Angst vor einem Handelskrieg wiegt schwer.
Offenbar muss viel geschehen, bis die Märkte reagieren. Täuscht der Eindruck, oder haben die Finanzmärkte sich ein Stück vom politischen Geschehen entkoppelt?
In einer akuten Finanzkrise oder einer echten Wirtschaftskrise hängen Finanzmärkte und Politik sehr eng aneinander. Das war 2008 sichtbar und besonders während der Eurokrise. Aber in einer guten konjunkturellen Lage, wie wir sie momentan nahezu weltweit genießen, sind Finanzmärkte und Konjunktur nicht ganz so abhängig von einzelnen politischen Entscheidungen und kleineren Krisen. Das ändert sich, wenn es um grundsätzliche Fragen gehen sollte wie den Zusammenhalt des Euro oder die künftige Welthandelsordnung. Dann gibt es einen klaren Zusammenhang zwischen Finanzmärkten und Politik.





Nun sollen ja immer mehr neue Zölle in Kraft treten. Wann ist ein kritischer Punkt erreicht?
Kritisch würde es dann, wenn die USA weit über die bislang diskutierten Zölle hinausgehen. Zölle auf Autoeinfuhren aus Europa würden bereits zeigen, dass ein Handelskrieg begonnen hat. Aber der Schaden dadurch wäre wahrscheinlich selbst für die deutsche Wirtschaft noch begrenzt. Wir sprechen von weniger als 0,2 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung. Wenn es jedoch darüber hinausgeht, müssen wir uns auf längere und stärkere Wirtschaftseinbußen einstellen, und zwar auf beiden Seiten des Atlantiks. Aus weltwirtschaftlicher Sicht ist dieses Thema deutlich wichtiger als die Frage, ob die CSU in Berlin mitregiert oder nicht.
Holger Schmieding ist Chefvolkswirt bei der Berenberg Bank in London.