Berlin Warum Berlin anders ist, als viele denken

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Die Mär von der Start-up-Hauptstadt

Private Wohnungen, so sieht es das von Rot-Schwarz verabschiedete Zweckentfremdungsverbot vor, dürfen nicht mehr untervermietet werden. So scharf ist kein Gesetz gegen die boomende Sharing Economy irgendwo auf der Welt. Die Politik trifft nicht nur US-Riesen wie Airbnb, sondern auch lokale Kleinunternehmer, die Geld in die Sanierung von Ferienwohnungen steckten, bevor das Geschäftsmodell verboten wurde.

Und: Im ersten Halbjahr dieses Jahres floss das meiste Risikokapital nicht mehr nach Berlin, wie noch 2015, sondern nach London. Auch Stockholm und Paris kassierten mehr. Zwar sagt Oliver Samwer, Chef von Rocket Internet: „Wir haben noch nie Probleme gehabt, Leute nach Berlin zu holen.“ Aber er weiß: Das liegt am coolen Umfeld, nicht an politischen Rahmenbedingungen.

Die Mär von der hilfreichen Verwaltung

Berlin wolle der Welt ein freundliches Gesicht zeigen, sagt Bürgermeister Michael Müller (SPD) gerne. Seine Bürger treffen dieses Gesicht in Amtsstuben selten an – wenn sie überhaupt eins sehen. Wer heute einen Personalausweis beantragen möchte, muss bis November auf einen Termin warten. Nicht einmal das Geldausgeben gelingt. Das „Sondervermögen Infrastruktur der Wachsenden Stadt“ ist wegen Haushaltsüberschüssen mit knapp 700 Millionen Euro gut gefüllt. Es soll helfen, marode Schulgebäude, Krankenhäuser und Hochschulen zu sanieren. Doch bislang wurden erst zehn Prozent ausgezahlt. Berlin investiert heute nur sieben Prozent des Haushaltes. Damit ist es Schlusslicht unter den Bundesländern. Ein Grund: Die mächtigen Bezirke, oft größer als Städte wie Bielefeld, hängen bei der Bauplanung hinterher. Berlin bräuchte eine Gebietsreform.

Freilich gibt es auch negative Mythen über die Hauptstadt, die sich hartnäckig halten, aber mit der Wahrheit nur noch wenig zu tun haben, etwa:

Bis zum Ersten Weltkrieg war Berlin das industrielle Herz Deutschlands, Gründungssitz etwa von Siemens. Heute gilt die Hauptstadt als industrielles Brachland ohne einen einzigen Dax-Konzern. Aber: 13 der 30 größten deutschen Unternehmen haben Teile ihrer Forschung dorthin verlegt. „Daraus können sich nachhaltige Strukturen entwickeln“, sagt IW-Experte Klaus-Heiner Röhl. Hinzu kommen gute Unis und Forschungszentren. Nur Stockholm und Paris verzeichnen in der EU mehr Patente pro Kopf.

Die Mär vom Verkehrschaos

Berlins Pannen-Flughafen BER wurde zum nationalen und internationalen Gespött. Darüber vergisst man: Keine andere Stadt hat ein so gut funktionierendes Nahverkehrssystem. Nirgendwo gibt es mehr Haltestellen pro 100 000 Einwohner. Auch Carsharing boomt, nun sogar mit schicken Elektrorollern. Aber die Verwaltung bremst auch hier. Das Start-up CleverShuttle erhielt erst nach anderthalb Jahren eine Sondererlaubnis, um ein Sammeltaxi mit Elektroantrieb zu genehmigen, unter strengen Auflagen. München hingegen rollte CleverShuttle den roten Teppich aus. Es bleibt also dabei: Berlin ist eine sexy Weltstadt, trotz der lokalen Politik. Nicht wegen ihr.

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