Berlin intern

Alles, was Recht ist

Gregor Peter Schmitz
Gregor Peter Schmitz Ehem. Leiter Hauptstadtbüro WirtschaftsWoche (Berlin)

In den USA gelten Verfassungsrechtler als Halbgötter. Deutsche Politiker sehen sie eher als Ärgernis.

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Roben der Bundesverfassungsrichter. Quelle: dpa

Als der Supreme Court, der Oberste Gerichtshof der USA, 1928 seine neue Stätte in Washington bezog, hatte er nicht das große Los gezogen. Das Gebäude lag eingequetscht am Rande des Regierungsviertels, erinnert sich der Gerichtshistoriker Jeffrey Toobin. Aber der Architekt wusste Rat. Er ließ 44 marmorne Stufen vor dem Gerichtsgebäude anbringen, so schlich sich bei jedem noch so mächtigen Besucher Respekt vor dem Tempel des Verfassungsrechts ein.

Amerikas aktuelle Querelen um die Benennung eines der „Nine“ – der auf Lebenszeit ernannten neun Obersten Richter – unterstreicht derlei Ehrfurcht. So politisch wichtig sind deren Entscheidungen zu Wirtschaftsfragen, zum Waffenbesitz oder zu Abtreibungen, dass viele Amerikaner das Gericht als eine der wenigen Institutionen ansehen, die im zerstrittenen Amerika noch Entscheidungen fällen. Und es machen sogar Gedankenspiele die Runde, Präsident Barack Obama könne eine Entscheidung hinauszögern, bis Hillary Clinton als Nachfolgerin ihn für den gerade verstorbenen Richter Antonin Scalia ernennen kann. Immerhin hat Obama als Verfassungsjurist seine erste Karriere gemacht, er hat legendäre Richter wie Earl Warren – der die Rassentrennung aufhob – stets als Vorbild genannt.

Ähnlich viel Respekt vor den Obersten Richtern ist in Berlin und Deutschland nicht zu finden. Wird ein ehemaliger Verfassungsgerichtspräsident wie Roman Herzog Bundespräsident, muss er sich bisweilen hämisch vorhalten lassen, „Ruckreden“ seien wohl schwerer zu schreiben als Urteilsbegründungen. Wie leicht Kanzler Gerhard Schröder im Wahlkampf 2005 den Exverfassungsrechtler und Steuerreformer Paul Kirchhof als „Professor aus Heidelberg“ abstempeln konnte, hat Kirchhof bis heute nicht vergessen.

Die Empfindlichkeit geht aber in beide Richtungen: Da Verfassungsrichter bei uns nur zeitlich begrenzt agieren, können sie sich danach umso kritischer einmischen. Gerade tun dies mehrere mit Verve. Exverfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier griff den Flüchtlingskurs der Kanzlerin per Zeitungsinterview an. „Noch nie war in der rechtsstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik die Kluft zwischen Recht und Wirklichkeit so tief wie derzeit“, schrieb Papier. Das las sich beinahe wie Horst Seehofers Furcht vor einer „Herrschaft des Unrechts“. Papiers Exkollege Udo di Fabio will sogar eine Klage der bayrischen Regierung gegen Merkels Flüchtlingspolitik vorbereiten.

Politiker ärgern sich darüber. Denn zwar ist juristisches Denken geschätzt in Deutschlands Politik. Während der Euro-Krise warfen andere EU-Mitgliedstaaten – nicht immer zu Unrecht – den Deutschen vor, allzu juristisch zu denken. Nicht so sehr schätzen Politiker freilich, sich von Rechtsgelehrten öffentlich belehren zu lassen. Sie seien ja als Juristen aus der Übung, grummeln sie dann gerne, eins erinnerten sie aber noch: Verfassungsrecht sei immer politisches Recht, mit klarer Betonung auf politisch.

Daher wird in Berlin mit Interesse wahrgenommen, dass im Umfeld des Bundesverfassungsgerichts angesichts der Aktivitäten von Papier und di Fabio der Gedanke einer Selbstverpflichtung für Richter kursiert, als Ruheständler ruhig zu bleiben. Den meisten Politikern wäre das wohl durchaus recht.

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