Berlin intern Das doppelte Gesicht von SPD-Chef Gabriel

Der SPD-Chef Sigmar Gabriel hat die Landtagswahlen überlebt. Aber was jetzt? Er sollte ein sozialliberales Projekt wagen!

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Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) ist für seinen Wankelmut bekannt Quelle: dpa

Das Landtagswahl-Debakel am vergangenen Sonntag hat Sigmar Gabriel überlebt, so eben noch. Malu Dreyer hat ihn gerettet. Wobei der Malu-Effekt mit dem Wörtchen „gerettet“ noch zurückhaltend beschrieben ist. Denn die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin hat das Zeug zum doppelten SPD-Vorbild. An ihr kann man nicht nur die segensreiche Wirkung von Haltung beobachten, sondern vielleicht auch das Durchsetzen neuer Machtoptionen.

Wenn Gabriel 2017 Kanzlerkandidat werden sollte (und nichts lässt darauf schließen, dass ein anderer ihm diese Arme-Sau-Rolle noch abnimmt) und dabei überhaupt eine Chance aufs Kanzleramt haben will, muss er sich entscheiden: Setzt er auf Rot-Rot-Grün? Oder wagt er es, die SPD für ein sozialliberal-grünes Projekt zu öffnen? In Mainz könnte Dreyer genau diesen Pfad für ihn ebnen.

Aber will der oberste Genosse das überhaupt? Die These vom wankelmütigen, janusköpfigen Sigmar Gabriel ist schließlich der Klassiker der SPD-Psychoanalyse. Gabriel hat in seinem politischen Leben in der Tat schon so häufig Hü und dann wieder Hott gesagt, ist mal links rum und dann wieder rechts rum gegangen, dass ihn sich professionelle Politik-Interpreten nur noch als Doppelwesen erklären: als Mephisto und Faust, Choleriker und Hochsensiblen, als großes Talent und als kurzsichtigen Taktierer.

Gabriel sollte zu seinen Überzeugungen stehen

Aber das ist doppelt ungerecht: Erstens, weil Angela Merkel weit unbeschadeter viel mehr Irrungen und Wirrungen hinter sich gebracht hat. Und zweitens, weil Gabriel eigentlich seit sehr vielen Jahren unverändert überzeugt über seine Idee von Freiheit und vom Glück der Emanzipation redet. Es merkt nur selten einer.

von Gregor Peter Schmitz, Max Haerder, Christian Ramthun, Christian Schlesiger, Cordula Tutt

Das wiederum liegt – gerechterweise – an ihm. Siehe Herbst 2015: Da legte Gabriel seiner Partei ein neues Leitbild nahe. Er betonte die Rolle der Leistungsträger, der „arbeitenden Mitte“, wollte Einkommen erhöhen und nicht Steuern. Das war die Skizze einer optimistischen Sozialdemokratie, die mehr versprach als Prekariatsumschmeichlung. Oder, wie er selbst das manchmal spöttisch nennt, mehr als teure Bruttoregistertonnen-Politik. Dann aber, im Wahlkampf-Frühjahr 2016, entdeckte der SPD-Chef die Besorgten und Ängstlichen und machte den Satz „Für die Flüchtlinge tut ihr alles, für uns tut ihr nix“ zu seinem Leitmotiv.

Gabriel nahm dabei nicht einfach nur eine Stimmung auf, er bestätigte und adelte sie, statt sie argumentativ zu entkräften. Darin ist er wirklich unnachahmlich: erst einen sozialdemokratisierten Christian-Lindner-Sound anzuschlagen, um wenig später in eine linksdrehende Frauke-Petry-Tonlage zu wechseln.

Es wird höchste Zeit, dass er zu seinen Überzeugungen steht. Dann kann die Losung nur lauten: Mehr Rheinland-Pfalz wagen! Die Alternative, eine rot-rot-grüne Koalition im Bund, wäre außenpolitisches Vabanque und haushaltspolitisch unbezahlbar. Ja, Gabriel müsste der SPD für eine sozialliberale Renaissance erst die Fähigkeit zurückgeben, glaubhaft Aufstieg zu versprechen, statt überall den drohenden Abstieg zu wittern. Und zugegeben, FDP-Chef Christian Lindner gilt nicht gerade als großer Fan dieser Konstellation. Aber vielleicht lernt Lindner den echten, den freiheitlichen Gabriel-Sound noch zu schätzen. Liberale und Genossen haben schließlich eines gemeinsam: die Liebe zum Fortschritt.

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