
Es gibt für Politiker und deren Liebsten eine Menge Gründe, ein Buch zu verfassen. So lässt sich die eigene Bedeutung in der Geschichte sicherstellen (Helmut Kohl, „Ich wollte Deutschlands Einheit“), die eigene Ehemisere aufarbeiten (Bettina Wulff, „Jenseits des Protokolls“), zumindest solange, bis das Eheglück auf einmal zurückkehrt, oder ein eigener Fehltritt ungestört beschönigen (Karl-Theodor zu Guttenberg, „Vorerst gescheitert“).
Ein Grund ist weit seltener vertreten, dabei ist er der altmodischste im Buchgeschäft: die Verbreitung kluger Gedanken. Den aber verfolgt hartnäckig Norbert Lammert, Bundestagspräsident und so immerhin protokollarisch zweiter Mann des Staates. Zum 25. Jahrestag der deutschen Vereinigung hat der CDU-Mann bei Herder ein Buch mit dem Titel „Unser Staat. Unsere Geschichte. Unsere Kultur“ vorgelegt. Es ginge ihm um „intellektuelle Reflexionsebenen“, erklärte Lammert, vom Ersten Weltkrieg über den Holocaust bis zur Bürgerrevolution in der DDR.





Das ließe sich à la Kohl, Wulff oder Guttenberg als glamouröse Geschichtsshow inszenieren, mit Starrednern aus der Politik und Kameragroßaufgebot. Doch Lammert kommt lieber leise daher, bei seiner Buchvorstellung sprach nur der ebenfalls eher gelassene Historiker Heinrich August Winkler.
So geizig Lammert mit Glamour umging, so verschwenderisch zeigt er sich mit klugen Sätzen – etwa darüber, dass freie Gesellschaften nicht konfliktfrei sein könnten, aber für das Austragen von Konflikten ein festgeschriebenes System von Gemeinsamkeiten brauchten, das sich ständig fortschreibe, „im Wechsel der Generationen und im Wechsel der Menschen, die auf einem Territorium miteinander leben“. In Zeiten von Zuwanderungsdebatten bleibt der Satz im Kopf hängen, genau wie dieser: „Die verschiedenen Staaten auf diesem Globus unterscheiden sich weniger dadurch voneinander, ob sie noch souverän sind oder nicht, sondern ob sie begriffen haben, dass sie nicht mehr souverän sind.“ Und Lammert fügt hinzu, dass die oft gescholtene EU „der bislang mit Abstand intelligenteste Versuch einer Antwort auf diese epochale Veränderung“ sei.
Es macht Spaß, dies zu lesen, allerdings auch etwas wehmütig. Denn der kluge Lammert hat natürlich längst begriffen, dass auch die Souveränität seiner Volksvertreter nicht mehr ist, was sie einmal war. Das gilt nicht allein für Possen wie die jüngste Griechenlandabstimmung, als Abweichler mit parteiinternen Strafen rechnen mussten. Es gilt schlicht fürs politische Geschäft, das zunehmend vom Onlinefieber getrieben wird, befeuert von Facebook, Instagram, der Twitter-Demokratie. Selbst Kanzlerin Angela Merkel gibt zu, alles sei so viel schneller geworden. Nur bei Lammert ist wenig schneller geworden, er setzt stur darauf, dass die Leute Bundestagsdebatten sehen sollten statt Talkshows. Aber das tun kaum noch Menschen und Politiker auch nicht, sie twittern lieber darüber.
„Die Leiden des Doktor L.“ hat der „Spiegel“ daher schon diagnostiziert und unterstellt, Lammert lebe in einer anderen Welt. Die gab es bei dessen Buchvorstellung zu beobachten, zu der sich nichts auf Twitter fand und keine Instant-Kommentare von Parteifreunden und Parteifeinden aufblinkten. Zumindest für einige Stunden war die Berliner Welt eine schöne alte – und altmodische – Welt.