Berlin Schicksalswahl für die Piratenpartei

Lange war die Piratenpartei in der Versenkung verschwunden. Während sie sich in internen Streits aufrieb, machten ihr andere Parteien die Themen streitig. In Berlin könnte die Piratenpartei nun ein Überraschungserfolg erzielen.

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Das Wahlplakat der Quelle: Kay Nietfeld dpa/lbn

Klaus Peukert hat die klassische Karriere in der Piratenpartei durchlaufen. Im Sommer 2009, als die junge Truppe den etablierten Parteien zeigte, wie man im Internet Wahlkampf macht und mit Flashmobs und Protesten gegen "Zensursula" von der Leyen eine kleine orangene Revolution im Politikbetrieb auslöste, wurde auch Peukert von der Aufbruchstimmung angesteckt. "Das klang total super", erinnert sich der 34-Jährige. Wie Tausende andere tauschte er Politikverdrossenheit gegen ein Parteibuch.

Doch auf die Euphorie folgte Ernüchterung, die schon bald in Enttäuschung umschlug. Anfang des Jahres machte Peukert seinem Ärger Luft. "Liebe Piratenpartei – wir müssen reden", überschrieb er seinen offenen Brief, "Pöstchenatentum, Prinzipienfetischismus und politische Kleingärtnerei" warf der Leipziger seinen Mitstreitern vor – und wurde mit Zustimmung überhäuft. "In viel zu vielem hast du viel zu recht" oder "er spricht mir aus der Seele", schrieben die Kommentatoren. Als Fußballschiedsrichter ist Peukert Konflikte gewohnt, doch im Mai hatte er genug und trat aus der Piratenpartei aus.

Und damit ist Peukert nicht der Einzige. Nachdem die Mitgliederzahlen nach der Europawahl 2009 innerhalb eines Jahres von 1000 auf fast 12 500 geschossen waren, herrschte Stagnation. In den vergangenen Monaten sind Hunderte Mitglieder aus der Piratenpartei ausgetreten. Der Urnengang in Berlin am kommenden Sonntag wird für die Partei zur Schicksalswahl. "Berlin ist für die Piratenpartei eine Wegscheide", sagt Christoph Bieber, Politikprofessor an der Universität Duisburg-Essen und einer der profiliertesten Kenner der Netzpolitik in Deutschland. Die Hauptstadt ist eine Hochburg der Truppe. Wo, wenn nicht hier, sollte der Sprung ins Parlament gelingen?

Profilierungsthema Netzpolitik

Immerhin, in Umfragen kommt die Piratenpartei inzwischen auf weit mehr als fünf Prozent, zumindest zwei ihrer wichtigsten Wahlziele könnte sie erreichen: einen eigenen Balken in den Diagrammen der Hochrechnungen und einen Sieg über die FDP. Sollte sie nicht wenigstens solch einen Achtungserfolg erzielen, dürfte sich für die Partei die Frage nach der Daseinsperspektive stellen.

Dabei hätten die vergangenen zwölf Monate eigentlich das Jahr der Piraten sein können. Mit den Debatten über Datenschutz bei Facebook oder Google-Street-View standen immer wieder Kernthemen der Partei im Fokus. Doch während die Piraten innerparteiliche Streitigkeiten pflegten, machten ihr die etablierten Parteien die Themen streitig. "Das Auftauchen der Piratenpartei führte zum Umdenken in allen Parteien", sagt Markus Beckedahl, Gründer des Portals Netzpolitik, "seitdem ist das Internet ein Profilierungsthema." Nachwuchspolitiker kämpfen um die Position des netzpolitischen Sprechers, Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner positioniert sich bei jeder Gelegenheit mit Attacken auf Facebook & Co. als oberste Datenschützerin.

Doch im Netz ernten die etablierten Parteien weiterhin oft Spott. "Sie treten mit so schöner Regelmäßigkeit ins Fettnäpfchen, dass die Piratenpartei von allein ihre Existenzberechtigung behält", sagt Bieber. Bestes Beispiel: Viele CDU-Politiker fordern ein Verbot von Facebook-Partys – doch wie manche Teenager lud auch der CDU-Ortsverband in Hasloh bei Hamburg versehentlich selbst alle Facebook-Nutzer zu ihrem Sommerfest und musste die Party aus Angst vor Tumulten absagen.

Mitgliederentwicklung der Piratenpartei Quelle: Piratenpartei

Die Piratenpartei hingegen kämpft vor allem mit sich selbst. Einerseits fehlt es ihr an prominenten Köpfen, andererseits wird jeder, der sich zu sehr profiliert, argwöhnisch beäugt. Wie einst die Grünen, die sich als Antiparteienpartei verstanden, wollen die Piraten anders sein als die anderen Parteien und pflegen eine Basisdemokratie, die eine Entscheidungsfindung oft kaum möglich macht.

Auf Parteitagen gibt es keine Delegierten, jeder kann kommen und mitdiskutieren. Mindestens genauso lange wie über die Inhalte wird dann darüber gestritten, ob Geschäftsordnungsantragsteller einen Geschäftsordnungsänderungsantrag zu ihrem Geschäftsordnungsantrag stellen dürfen. So passiert es dann, dass ein Großteil der Anträge aus Zeitgründen nicht behandelt werden kann und man sich einige Wochen später noch einmal zur "Landesmitgliederversammlung Reloaded" trifft.

Zu einem der größten Probleme wird dabei ausgerechnet eine bisherige Stärke: Durch den Einsatz von Internet-Plattformen wie Twitter und Facebook konnte die Piratenpartei bisher finanzielle und organisatorische Nachteile ausgleichen. Sie machte den etablierten Parteien vor, wie moderner Online-Wahlkampf geht.

Das Obama-Dilemma

Doch nun steckt die Partei in einem Dilemma, das auch Barack Obama erlebt, der ebenfalls zahlreiche Anhänger über das Netz mobilisierte. Eine offene, transparente Kommunikation unter Einsatz sozialer Netzwerke funktioniert vor allem in Gruppen gut, die sich gerade zusammenfinden. "Doch jetzt haben sowohl die Piratenpartei als auch Obama eine Organisationskultur, die in dieser offenen Form nicht mehr funktioniert", sagt Bieber. Die Partei diskutiert zwar weiter intensiv in Blogs und auf Twitter, Mailinglisten und dem Audio-Chat-System Mumble, merkt dabei aber nicht, dass außerhalb des Piratenkosmos kaum jemand davon etwas mitbekommt.

Die virtuelle Organisationsstruktur bildet zwar das Lebensgefühl einer Generation ab, für die Fernbeziehungen fast schon den Normalzustand darstellen und die sich ein Leben ohne Skype kaum vorstellen kann. So arbeitet Klaus Peukert unter der Woche als Consultant in München, am Wochenende fährt der 34-Jährige zu Frau und Kind nach Leipzig. Doch die Kommunikationsmittel, mit denen Freunde und Familie die Distanz überbrücken, haben im politischen Alltag einen großen Nachteil. "Im Virtuellen ist es einfacher, zu beleidigen", sagt Peukert, "die Randpositionen bestimmen die Diskussion." Die Debatten drehen sich so im Kreis, Gemäßigte wenden sich ab, und vieles wird zerredet.

Eine, die das Problem erkannt hat, ist die neue Bundesgeschäftsführerin Marina Weisband. "Je mehr wir werden, desto mehr schreien alle durcheinander, und die Lautesten gewinnen", sagt Weisband. Die Psychologie-Studentin arbeitet an einem Kommunikationskonzept, um die auf multiplen Plattformen laufenden Diskussionen zu bündeln. Ein zentrales Element ist das Computerprogramm Liquid Feedback, eine Art Abstimmungstool, mit dem ermittelt werden soll, wie die Mehrheit der Partei zu bestimmten Positionen steht.

Piratenparteichef Sebastian Quelle: Stefan Puchner dpa/lsw

Das Besondere an Liquid Feedback: Das Programm gibt den Parteimitgliedern die Möglichkeit, ihre Stimme an eine andere Person zu delegieren, der sie mehr Kompetenz in bestimmten Fragen zutrauen. Es ist eine Fortsetzung der repräsentativen Demokratie mit modernen Mitteln. "Liquid Feedback kratzt an etablierten Machtstrukturen und ist eine Alternative zu Abstimmungen in Hinterzimmern", sagt Björn Swierczek, einer der Programmierer der Software. Da jeder sieht, wer zu welchen Themen wie abgestimmt hat und welche Stimmen dabei an wen delegiert wurden, macht Liquid Feedback auch das innerparteiliche Beziehungsgeflecht transparent.

"Der Vorbildcharakter für andere Parteien ist enorm", erklärt Frank Rieger, Sprecher des Chaos Computer Clubs (CCC), und beschwört die Partei öffentlich: "Liebe Piraten, bitte vermasselt das mal nicht." Denn Liquid Feedback ist so revolutionär wie umstritten. So stellt ausgerechnet das Experiment mit einer neuen Form der elektronischen Demokratie die Nerd-Partei vor eine Zerreißprobe. Seit Monaten tobt ein erbitterter Streit, die Programmierer des Systems gaben entnervt auf und traten aus der Partei aus. "Die Diskussionskultur war unterirdisch", sagt Swierczek.

Die Kritiker von Liquid Feedback monieren den fehlenden Datenschutz. Zu den Gegnern gehörte auch der neue Parteichef Sebastian Nerz. "Liquid Feedback ist gescheitert", erklärte er im Vorjahr. Nun will Nerz dem System eine Chance geben, wenn es nicht als Entscheidungsgrundlage dient: "Ich habe mich überreden lassen."

Schnöder, langweiligen Straßenwahlkampf

Bei der Wahl auf dem Parteitag im Mai hatte er sich ausgerechnet gegen einen der größten Unterstützer des Systems durchgesetzt: Christopher Lauer, nun Direktkandidat im Berliner Wahlkreis Pankow 8. "Liquid Feedback vereinfacht die Prozesse unglaublich", sagt Lauer, "wo wir es benutzt haben, funktionierte es großartig." Ein Erfolg bei der Wahl könnte den Befürwortern Auftrieb verleihen, denn in Berlin ist das System seit Langem im Einsatz; auch das Wahlprogramm wurde damit erarbeitet.

Nun versuchen Lauer und seine Mitstreiter mit ihren Forderungen nach mehr Transparenz in der Politik, beispielsweise durch die Offenlegung von Verträgen des Senats, die Berliner zu überzeugen. Das Internet spielt dabei gar keine so große Rolle. "Ich mache hauptsächlich schnöden, langweiligen Straßenwahlkampf", sagt Lauer.

Im direkten Gespräch lassen sich Menschen oft noch am besten überzeugen. Das merkte auch Klaus Peukert, als er vor Wochen auf einem Camp Christopher Lauer und andere Berliner Mitglieder der Partei kennenlernte. "Als ich da am Lagerfeuer gesessen und mit vielen Leuten im echten Leben gesprochen habe, kam auch die Motivation zurück", sagt Peukert. Inzwischen ist er wieder in die Partei eingetreten.

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