Berlin-Wahl Merkel muss einlenken – zweimal

Kurz vor der Berlin-Wahl hatte Kanzlerin Merkel in der WirtschaftsWoche eine Kurskorrektur zur Flüchtlingsfrage versucht. Zu spät, ihre Union wurde wieder abgestraft. Jetzt wird Merkel doppelt Wahlkampf führen müssen – erst in ihrer eigenen Partei, dann in Deutschland.

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Die ersten Reaktionen zur Wahl
Die Berliner haben gewählt. Die rot-schwarze Koalition in Berlin ist abgewählt. Trotz deutlicher Verluste bleibt die SPD stärkste Kraft in der Hauptstadt. Der Regierende Bürgermeister Michael Müller muss sich aber neue Partner suchen. Die zweitplatzierte CDU sackte bei der Abgeordnetenhauswahl nach ersten Prognosen auf das schlechteste Ergebnis in der Berliner Nachkriegsgeschichte ab. Ein Jahr vor der Bundestagswahl lieferten sich Grüne und Linke ein Kopf-an-Kopf-Rennen um den dritten Platz. Die AfD setzte ihren Höhenflug fort und kam auf ein zweistelliges Ergebnis. Die FDP kehrt nach dem Aus von 2011 ins Parlament zurück. Erwartungsgemäß flogen die Piraten raus. Erste Reaktionen. Quelle: dpa
Michael Müller (SPD), Berlins Bürgermeister:Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) beansprucht nach dem Wahlsieg am Sonntag das Amt des Regierungschefs für seine Partei. Die SPD werde den Regierenden Bürgermeister stellen, sagte Müller am Sonntagabend. Welche Koalition er bevorzugt, ließ Müller offen. Nach jeweils deutlichen Verlusten reicht es für SPD und CDU nicht mehr für eine Regierungskoalition. Müller sagte: „Wir haben unser Ziel erreicht: Wir sind stärkste politische Kraft in dieser Stadt geblieben und wir haben einen Regierungsauftrag.“ Quelle: REUTERS
Frank Henkel (CDU):CDU-Spitzenkandidat Frank Henkel hat das Abschneiden seiner Partei als absolut unbefriedigend bezeichnet. „Die Wählerinnen und Wähler haben der großen Koalition einen deutlichen Denkzettel verpasst“, sagte Henkel am Sonntagabend. „Wir haben eine gute Bilanz, aber ganz offensichtlich ist es uns in diesem Wahlkampf nicht gelungen, die Bilanz in eine erfolgreiche Kampagne und in Wählerstimmen umzusetzen“. Henkel warnte vor einer Spaltung in linke und rechte Lager und sagte: „Wir stehen zu Sondierungsgesprächen bereit.“ Das Ergebnis werde am Montag im Präsidium der CDU und im Landesvorstand aufgearbeitet. Quelle: REUTERS
Klaus Lederer, der Spitzenkandidat der Linken: Klaus Lederer, hält seine Partei für einen der großen Sieger bei der Abgeordnetenhauswahl. „Wir haben unser Wahlziel mehr als erreicht. Und das bei einer deutlich gestiegenen Wahlbeteiligung. Ich hätte das so nicht für möglich gehalten“, sagte Lederer am Sonntagabend. Quelle: dpa
FDP-Bundesvize Katja Suding:FDP-Bundesvize Katja Suding hat sich erfreut über das Ergebnis ihrer Partei bei der Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses gezeigt. „Nach Hamburg und Bremen ist nun auch im Stadtstaat Berlin wieder eine liberale Fraktion im Parlament vertreten“, sagte sie am Sonntag. Die Liberalen hätten im Wahlkampf die Sorgen und konkreten Alltagsprobleme der Berliner Bürger angesprochen, seien es die massiven Terminprobleme bei den Bürgerämtern, die Digitalisierung der Stadt oder die Schaffung bezahlbaren Wohnraums. Bei der Wahl am Sonntag war der 2011 aus dem Landesparlament geflohenen FDP die Rückkehr gelungen. Quelle: dpa
Markus Söder, Bayerns Finanzminister (CSU) zur "Bild"-Zeitung:"Das ist der zweite massive Weckruf in zwei Wochen. Der Union droht ein dauerhafter und massiver Vertrauensverlust in ihrer Stammwählerschaft. Dieser Trend bedroht auf Dauer die politische Stabilität des Landes. ... SPD und CDU müssen sich vor allem in der Flüchtlingsfrage wieder um mehr Zustimmung der Bürger bemühen und endlich die Zuwanderung strikt begrenzen und die Sicherheitsprobleme unter Kontrolle bringen." Quelle: dpa
CDU-Generalsekretär Peter Tauber:Peter Tauber hat das schlechte Abschneiden der Union bei der Abgeordnetenhauswahl in Berlin bedauert. Die CDU sei zwar zweitstärkste Kraft geblieben, dennoch sei das Ergebnis nicht erfreulich, sagte Tauber am Sonntagabend in Berlin. Der Wahlkampf sei sehr stark von der großen Unzufriedenheit mit dem rot-schwarzen Senat unter Führung von Michael Müller (SPD) geprägt gewesen. „Der Fisch stinkt bekanntlich vom Kopf her.“ Die CDU habe sich von dieser Stimmung nicht absetzen können, obwohl sei eine erfolgreiche Politik gemacht habe“, sagte Tauber. Quelle: dpa

Politiker sagen viel, jeden einzelnen Tag. Aber wenn sie etwas ganz Neues sagen wollen, überlegen sie sich sehr genau, an welchem Tag sie dies tun.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat der WirtschaftsWoche am Samstag, genau 24 Stunden vor der wichtigen Berlinwahl, bemerkenswerte Worte gesagt. Es ging um ihren berühmten Satz „Wir schaffen das“, an dem Merkel über ein Jahr lang unbeirrt festgehalten hatte - zu dem sie nun aber auf einmal mehr als eine Armlänge Abstand halten wollte. „Manchmal denke ich aber auch, dass dieser Satz etwas überhöht wird, dass zu viel in ihn geheimnist wird“, sagte Merkel unserem Magazin und fügte hinzu: „So viel, dass ich ihn am liebsten kaum noch wiederholen mag, ist er doch zu einer Art schlichtem Motto, fast zu einer Leerformel geworden.“ Merkel ließ sogar durchblicken, wie bewusst ihr die negative öffentliche Reaktion auf ihren Satz geworden ist: „Manch einer fühlt sich von ihm sogar provoziert“, sagte sie. 

Die Kanzlerin verband mit diesem ungewöhnlichen Vorstoß, so ist anzunehmen, gleich zwei Hoffnungen. Sie wollte ihrem schärfsten Kritiker in der Flüchtlingskrise, CSU-Chef Horst Seehofer, ein wenig entgegen kommen. Der hat sich schließlich immer auch an „Wir schaffen das“ gerieben – den Satz könne er sich nicht zu Eigen machen, ließ Seehofer mehrfach verlauten.

Merkel wollte aber wohl auch vor der Wahl in Berlin vielleicht doch noch mit allen Mitteln retten, was für die Union zur Ausnahme geworden ist – Regierungsbeteiligung in den Bundesländern. Das Ergebnis von Berlin zeigt: So schnell geht das nicht. Die große Koalition in Berlin ist Geschichte, damit wohl auch das Mitregieren der CDU. Zwar ist die Union nicht wieder, wie in Merkels politischer Heimat Mecklenburg-Vorpommern, auf dem dritten Platz gelandet, noch hinter der AfD. Aber sie hat erneut deutlich verloren und sie ist nun nur noch in sechs Landesregierungen vertreten.

Und: Merkel wird dafür erneut persönlich verantwortlich gemacht. 52 Prozent der Berliner Wähler, so zeigten Umfragen, machten sie direkt verantwortlich für das Abschneiden der CDU, weit mehr als den unglücklichen lokalen Spitzenkandidaten Henkel. Man könnte sagen: Merkels Distanzierung von „Wir schaffen das“ ist zumindest in Berlin mit großer Distanz aufgenommen worden.

Daher wird, schon am Montag, die Debatte um Merkels politische Zukunft weitergehen – und zwar nicht nur in Deutschland, sondern vor allem in der Union. In ersten Stellungnahmen nach der Wahl war von Parteioberen zwar ein „Weiter so“ zu vernehmen. Aber das dürfte sich schon am Montag ändern, wenn die wichtigen Parteigremien tagen und auch CSU-Chef Horst Seehofer vermutlich seine Einschätzung mitteilen wird.

Merkel muss zuallererst eine Art Burgfrieden mit Seehofer finden, der zuletzt signalisiert hatte, sie nicht zu unterstützen zu wollen, sollte sie seinen Vorschlag einer Obergrenze für Flüchtlinge weiter ablehnen. Der könnte so aussehen: Seehofer spricht zwar weiter über diese Obergrenze, meint das aber nicht wirklich so.

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