Bert Rürup über die Flüchtlingskrise "Wachstum heilt nicht alles, aber vieles"

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Unsere humanitäre Pflicht

Sondern?
Die Flüchtlinge kommen in erster Linie, weil ihr Leben bedroht ist. Und es ist unsere humanitäre Pflicht sie aufzunehmen und zu versorgen, selbst wenn sie nur geringe Chancen haben, einen legalen Job zu bekommen  Und auch wenn wir ein Einwanderungsgesetz hätten und diese Menschen nicht die darin festgelegten Kriterien erfüllten, hätten wir sie aufnehmen müssen. Ein Einwanderungsgesetz ist ein Teil der nationalen Wirtschaftspolitik  und zielt darauf ab, im Interesse des Wirtschaftswachstums bestehende oder absehbare Lücken im Arbeitskräfteangebot zu schließen und, um eine substitutive Zuwanderung zu verhindern. Was wir jetzt gerade machen ist keine Wirtschaftspolitik, sondern Menschenrechtspolitik. Leider wird das in der öffentlichen Diskussion oft verquirlt. Und wir verdrängen, dass es eine Europäische Arbeitnehmerfreizügigkeit gibt, nach der jeder EU-Bürger das Recht hat, in jedem EU-Land und damit auch in Deutschland zu arbeiten. Je mehr Flüchtlinge mit ihrem Bleiberecht das Recht bekommen zu arbeiten steigt die Konkurrenz um die zunehmend weniger werdenden Arbeitsplätze, die keine besonderen Qualifikationen erfordern. Deshalb erwarte ich, dass im nächsten Jahr gleichzeitig die Beschäftigung wie die Anzahl der Arbeitslosen steigen werden.

So viel Geld bekommen Flüchtlinge in den europäischen Ländern

Flüchtlinge sind also nicht auf dem Arbeitsmarkt integrierbar?
Nein, das sage ich nicht. Aber es werden eine ganze Zeit lang deutlich mehr Flüchtlinge ein Bleiberecht bekommen und sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen als sie eine Beschäftigung finden. Noch einmal: Asyl muss gewährt werden, auch ohne Arbeitsmarktperspektive. 

Der Chef des Münchener ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, hat gefordert, dass der Mindestlohn für Flüchtlinge gesenkt oder ausgesetzt werden soll. Ist das nicht eine gute Idee?
Natürlich würden dadurch die Beschäftigungschancen der Arbeit suchenden Flüchtlinge etwas verbessert. Aber um welchen Preis? Es würde ein Keil zwischen die in diesem Niedriglohnsegment Beschäftigten treiben. Derzeit arbeiten bei uns über fünf Millionen Menschen zu diesem Lohn, die übergroße Mehrzahl davon in den neuen Ländern. Würde der Mindestlohn im Interesse besserer Beschäftigungschancen der Migranten  abgesenkt, könnten sich diese Menschen zu Recht als Opfer der Flüchtlingspolitik der Regierung betrachten. Die Chancen einer erfolgreichen Integration der Flüchtlinge in die deutsche Gesellschaft würden mit Sicherheit dramatisch verschlechtert  Wenn man die Stimmung gegen die Flüchtlinge aufheizen will, muss man genau das machen. Tolle Willkommenskultur.

Selbst Ihre Ex-Kollegen, die Wirtschaftsweisen, fordern Lockerungen beim Mindestlohn.
Wer wie die Mehrheit des Rates immer gegen einen Mindestlohn war, dem ist jedes Argument recht, dieses Instrument zu durchlöchern oder verwässern. Und da die bis Ende 2014 im tiefen Brustton der Überzeugung vorausgesagten deutlichen negativen Arbeitsmarktseffekte nicht eingetreten sind und die Beschäftigung in den besonders vom Mindestlohn betroffenen Branchen stärker als im Durchschnit gestiegen ist, versucht man diese aus guten Gründen allgemeine Lohnuntergrenze unter dem Mäntelchen der Verbesserung der Beschäftigungschancen der arbeitsuchenden Flüchtlinge zu verwässern. Wer so argumentiert will einfach nicht anerkennen warum der Mindestlohn eingeführt wurde.

Andrea Nahles möchte kostengünstige Integrationsjobs schaffen, zum Beispiel mit Ein-Euro-Jobs. Ist das eine Option?
Natürlich sind diese - wie sie korrekt heißen - Arbeitsangelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung eine Option. Die bisherigen Erfahrungen mit diesen Jobs, die im Übrigen den Kriterien der Zusätzlichkeit und der Wettbewerbsneutralität genügen müssen also auch im öffentlichen Interesse zu liegen haben, sind aber nicht so toll, dass sie für viele Flüchtlinge eine echte Brücke in den ersten Arbeitsmarkt sein könnten. Der Vorschlag ist das, was der Volksmund weiße Salbe nennt.

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