Bert Rürup über die Flüchtlingskrise "Wachstum heilt nicht alles, aber vieles"

Der frühere WirtschaftsWeise Bert Rürup, ehemaliger Wirtschaftsweiser und Politikberater, spricht im Wirtschaftswoche-Interview über die Flüchtlingsdebatte, Solidarität in der europäischen Union und darüber was Flüchtlinge und Neugeborene gemeinsam haben. Ein Interview.

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Bert Rürup Quelle: REUTERS

WirtschaftsWoche Online: Herr Rürup, Sie waren lange Zeit Berater der Bundesregierung. Wie beurteilen Sie das Management der Flüchtlingskrise unter Bundeskanzlerin Angela Merkel?
Herr Bert Rürup: Angela Merkel war bis vor ganz kurzer Zeit so erfolgreich und beliebt, weil sie die Sache immer vom Ende her gedacht hat. Sie hat bei eigentlich allen Entscheidungen die langfristigen Konsequenzen kalkuliert und nur solche getroffen, deren Konsequenzen sie sorgfältig abgeschätzt hat. Das hat oft dazu geführt, dass sie zögerlich oder halbherzig wirkte. In der Flüchtlingsfrage hat sie menschlich reagiert und zunächst eine Solidaritätswelle ausgelöst. Doch zwischenzeitlich kehrt die Ratio wieder zurück, und es wird klar, dass es keinen Plan gab und gibt.

Also wäre es doch nur logisch, wenn die Kanzlerin ihr anfängliches Diktum „Wir schaffen das“ aufgeben würde?
Auf dem Parteitag hat sie mit der besten Rede, die sie je gehalten hat ihre parteiinternen Kritiker auf Linie gebracht, ohne wirklich von ihrer Position abzurücken. Ich bin sicher, sie wird in der Sache auch in der Zukunft daran festhalten. Bevor sie die aufgibt, gibt sie ihr Amt auf. 

Zur Person

Ist der Zuzug vieler Menschen nicht ein Segen für die deutsche Wirtschaft? Es gibt ja auch Flüchtlinge, die sehr gut ausgebildet sind.
Wie gut, dass Sie wenigstens über die Qualifikationen Bescheid wissen. Dumm nur, dass die Regierung nicht einmal weiß wie viele Menschen überhaupt gekommen sind. Es ist toll, dass es einige Ärzte und Informatiker  unter den Flüchtlingen aus Syrien gibt. Aber das löst weder das Problem der fehlenden Deutschkenntnisse der großen Mehrzahl und erst recht nicht das Problem, ob etwaige ausländische Abschlüsse bei uns auf dem Arbeitsmarkt verwertbar sind.

Was dann?
Wir müssen alles daran setzen, die Flüchtlinge, die ein Bleiberecht haben über eine reguläre Beschäftigung in unsere Gesellschaft zu integrieren. Das wird viele Jahre dauern und viel Geld kosten. Aber wir sollten diese Ausgaben als Investitionsausgaben ansehen. Ähnlich wie die Ausgaben, die entstehen würden, wenn sprunghaft die Geburtenrate bei uns ansteigen würde. Auch Kinder sind zunächst unproduktiv. Die Gelder, die unsere Gesellschaft für Kinder ausgibt sind aber Zukunftsinvestitionen. Bei den Flüchtlingen könnte es genauso sein. Das ist die Hoffnung.

Sie sind im Ruhrgebiet geboren und aufgewachsen. Die Wirtschaftskraft resultierte damals auch aus dem Zuzug vieler Gastarbeiter. Ist das nicht vergleichbar mit der heutigen Situation?
In der späten Wirtschaftswunderzeit herrscht ein Mangel an Arbeitskräften, und der  große Zustrom ausländische Arbeitnehmer kam erst nach dem Mauerbau. Da sie oft die schmutzigen Arbeiten machten und vielen deutschen Arbeitnehmern zu einem Aufstieg verhalfen war man ihnen gegenüber nicht ablehnend, sondern eher wohlwollend. Das war damals eine ausgeprägte komplementäre Arbeitsmigration - ähnlich wie die Zuwanderung aus Polen oder Oberschlesien im Zuge der Industrialisierung des Ruhrgebiets am Ende des 19. Jahrhunderts.

Ist das nicht heute wieder so?
Es gibt zwei Arten von Zuwanderung. Bei einer substitutiven Zuwanderung werden heimische Beschäftigte verdrängt. Eine komplementäre Einwanderung macht die Arbeitsplätze der heimischen Beschäftigten sicherer und wertet sie oft auf. Die Menschen kommen, weil es freie Arbeitsplätze gibt und man mehr Arbeitskräfte benötigt, um das Wirtschaftswachstum und den Wohlstand zu sichern. Dies ist heute  zum Beispiel bei den vielen Elektrikern der Fall, die aus  Ungarn zu uns kommen. Bei der großen Masse der Flüchtlinge ist das aber nicht der Fall. 

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