Bertelsmann-Studie Der Abstieg der Ausbildung ist unaufhaltsam

Eine neue Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt: 2015 gibt es mehr Studienanfänger als Ausbildungsstarter. Und die Azubis verlieren weiter an Boden. Aber wem nutzt es, wenn Kindergärtner bald einen Bachelor haben?

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Das sind die beliebtesten Ausbildungsberufe der Deutschen
Der Lidl-Mitarbeiter Kristian Divic räumt ein Regal ein. Quelle: dpa
Kaufmann/Kauffrau für BüromanagementAuf Platz zwei der beliebtesten Lehrberufe folgen der Kaufmann oder die Kauffrau für Büromanagement. 28.449 junge Menschen haben einen entsprechenden Ausbildungsberuf begonnen. Die Daten der aufgehobenen Ausbildungsberufe Bürokaufmann/-kauffrau, Kaufmann/Kauffrau für Bürokommunikation und Fachangestellter/Fachangestellte für Bürokommunikation wurden dem neuen Beruf Kaufmann/Kauffrau für Büromanagement zugeordnet. Die deutsche Wirtschaft braucht derzeit jedoch ganz andere Fachkräfte: In 96 verschiedenen Berufsbildern herrscht schon seit Jahren ein Mangel an auszubildenden und Fachkräften. Die Kaufleute sind es jedoch nicht, die so händeringend gesucht werden. Die komplette Liste aller Engpass-Berufe finden Sie hier . Quelle: Fotolia
Eine Verkäuferin präsentiert bunte, unbedruckte T-Shirts des US-amerikanischen Herstellers American Apparel Quelle: dpa/dpaweb
ein Lehrling zum Mechatroniker steht in einem Autohaus mit einer Bremsscheibe neben seinem Ausbildungsmeister Quelle: dpa
zwei Auszubildende zur Industriekauffrau beugen sich über einen Aktenordner Quelle: dpa
Arzthelferin Jennifer Brendle zieht den Impfstoff Pandemrix gegen die Schweinegrippe auf eine Spritze. Quelle: AP

Für Jörg Dräger ist die Sache längst ausgemacht: „Der Trend zur Akademisierung ist nicht zu stoppen. Der gesamte nachschulische Bildungsbereich muss sich verändern und anpassen“, sagt Dräger, Vorstandschef der Bertelsmann-Stiftung.  Dramatische Worte sind das, gelassen ausgesprochen. Doch die Daten geben ihm Recht: In einer neuen Studie kommt seine Stiftung zu dem Ergebnis, dass es in diesem Jahr zum zweiten Mal in der deutschen Bildungsgeschichte mehr Studienanfänger als Ausbildungsbeginner geben wird. Mehr noch: Von jetzt an wird sich an diesem Zustand auch nichts mehr ändern.

Der Studie zufolge nehmen in diesem Jahr 496.000 junge Menschen ein Studium auf, nur 490.000 beginnen eine Ausbildung. Bis 2030 wird die Anzahl der Studienanfänger zwischen 450.000 und 500.000 im Großen und Ganzen stabil bleiben, die Anzahl der Azubis wird hingegen drastisch abnehmen. Die Autoren rechnen damit, dass 2030 nur noch gut 400.000 Menschen eine duale Ausbildung beginnen werden, selbst unter den optimistischsten Annahmen werden es höchstens noch 430.000 sein.

Damit setzt sich ein Trend fort, auf den Bildungsforscher seit langem hinweisen. So ist der Anteil der Jugendlichen, die ihre schulische Bildung mit einer Hochschulzugangsberechtigung abschließen, schon zwischen 1993 und 2013 von 33 auf 57 Prozent gestiegen. An der Studienneigung hat sich derweil nicht geändert: Von den Absolventen, die studieren dürfen, wollen die meisten auch genau das tun.

Im Jahr 2000 begannen 79 Prozent von ihnen ein Studium, 2009 waren es 80 Prozent. Entsprechend stieg die Anzahl der Studenten, während sich im dualen Studium zwei negative Effekte gegenseitig verstärkten: Immer weniger Jugendliche wollen eine Ausbildung anfangen – und immer weniger Betriebe bilden aus. Noch im Jahr 2007 begannen gut 570.000 junge Leute eine Lehre, 2013 fiel der Wert erstmals unter die Marke von 500.000 – um dort dauerhaft zu verharren.

Die beliebtesten Ausbildungsberufe der Deutschen

Die Bertelsmann-Forscher machen für diese Entwicklung zweierlei Trends verantwortlich. Auf der einen Seite steht der, trotz Flüchtlingsströmen, in der Tendenz unaufhaltsame demografische Wandel. So hat sich allein zwischen 2005 und 2013 die Stärke der Jahrgänge im Alter von 18 bis 20 Jahren um fast 200.000 verringert.

Dieser Effekt trifft aber Ausbildung und Studium gleichermaßen. „Aufgrund der steigenden Studierneigung und der wachsenden Zahl von Studierenden aus dem Ausland können Universitäten und Fachhochschulen den demographischen Abwärtstrend besser kompensieren als die duale Ausbildung“, sagt Clemens Wieland, Autor der Studie. Vor allem Zuwanderung ist dabei ein wichtiger Schlüssel. 2013 schrieben sich gut 86.000 Studenten an deutschen Universitäten und Fachhochschulen ein, die ihren Abschluss nicht in Deutschland erworben hatten. Gegenüber 2005 entspricht das einer Steigerung von 54 Prozent.

Ein grundsätzliches gesellschaftliches Problem?

Zudem gelingt es den akademischen Einrichtungen offensichtlich besser, auf die veränderte Nachfrage zu reagieren. „Der Praxisbezug wird für Studenten immer wichtiger“, sagt Studienautor Wieland. Das schlägt sich zum einem in einem Boom der Fachhochschulen nieder. Stellten diese noch 1995 nur 26 Prozent der Studienanfänger, waren es 2013 bereits 39 Prozent. Mit der Nachfrage ist auch das Angebot gewachsen. So wurden seit 1995 81 Fachhochschulen neu gegründet, davon 72 von privaten Trägern.

Berufe mit Zukunftsgarantie
Ein Turm aus Styropor-Bausteinen, der vor dem Arbeitsministerium in Berlin aufgebaut wird, soll den ohne Fachkräfte zusammenbrechenden Arbeitsmarkt symbolisieren. Quelle: dpa
Ein junger Mann bedient einen Gasschweißer Quelle: dpa
Eine Dialyseschwester überprüft in Hamburg im Marienkrankenhaus die Einstellungen eines Dialysegerätes. Quelle: dpa
Ein Schiff fährt in Köln an den Kranhäusern und dem Dom vorbei den Rhein hinunter. Quelle: dpa
Einen Aufkleber mit dem offiziellen Slogan der Imagekampagne des Landes Baden-Württemberg "Wir können alles. Außer Hochdeutsch." hält eine junge Frau in der Hand. Quelle: AP
Der Reichstag in Berlin Quelle: REUTERS
Besucher aus Holland in bayerischem Blauweiß prosten sich beim Münchner Oktoberfest zu. Quelle: dpa

Derweil beschränkt sich die duale Ausbildung mehr und mehr auf ihre von jeher attraktiven Kernfelder. So wählen 64 Prozent der männlichen Auszubildenden 25 der insgesamt 330 Ausbildungsberufe, am beliebtesten sind dabei der Kraftfahrzeugmechatroniker und der Industriemechaniker. Bei den weiblichen Auszubildenden ist das Portfolio sogar noch enger: Hier konzentrieren sich 77 Prozent der Azubis auf die beliebtesten 25 Berufsbilder. Ein echtes Wachstum gibt es dabei nur in den Erziehungs- und Sozialberufen, wo die Zahl der Ausbildungsanfänger zwischen 2005 und 2014 um immerhin 24 Prozent auf gut 175.000 zunahm.

Der Trend aber ist damit klar: Die Ausbildung ist nur noch in einigen klassischen Feldern aus dem Einzelhandel und der Industrie attraktiv, in allen weiteren Feldern verlagert sich die Ausbildung in akademische Institutionen. Vor allem die Kammern und einige Intellektuelle wie der Münchner Philosoph Julian Nida-Rümelin sehen in diesem „Akademisierungswahn“ ein grundsätzliches gesellschaftliches Problem: "Wir erleben in den vergangenen Jahren eine totale Dominanz der kognitiven Bildung über alle anderen Formen", so Nida-Rümelin.

So informieren sich Jugendliche über ihre berufliche Zukunft

Der Human-Development-Index der Vereinten Nationen etwa misst den Fortschritt der menschlichen Entwicklung anhand des Anteils "tertiärer Bildung", also des Studiums. Alles andere gilt als minderwertig. "Wenn sich dieses Bild durchsetzt, stirbt die Ausbildung", so der Professor.  

Bei der Bertelsmann-Stiftung ist man da pragmatischer: „Wir sollten aufhören, Berufsausbildung und Studium gegeneinander auszuspielen“, so Stiftungschef Dräger. „Stattdessen müssen wir die Unausweichlichkeit dieses Trends zu höheren Bildungsabschlüssen akzeptieren und den Wandel entsprechend gestalten.“ Er sieht dafür drei Ansatzpunkte: „Quantitativ, indem wir die Zugänge in unsere nachschulischen Bildungssysteme für Zuwanderer und benachteiligte Jugendliche öffnen.“

Zudem müsse die Verzahnung zwischen den Ausbildungsformen verbessert werden, “indem wir die Bildungsgänge nicht als Sackgassen gestalten sondern ihre Durchlässigkeit erhöhen“. Zudem müsse die Nachfrage nach praxisorientierten Studiengängen noch stärker bedient werden.

Auch Dräger räumt aber ein: „Die deutsche Volkswirtschaft erwartet perspektivisch eine erheblich größere Lücke an Fachkräften mit beruflicher Qualifikation als mit akademischen Abschlüssen.“ Ob diese tatsächlich mit praktisch fortgebildeten Bachelor-Studenten gefüllt werden, muss sich noch zeigen.

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