Die drei Parteien des linken Lagers, SPD, Linkspartei und Grüne, haben im Wahlkampf noch die ehrlichste, die konsistenteste Parole verbreitet. Sie haben einen Politikwechsel gefordert und diesen Politikwechsel auch personifiziert. Ihre Forderung lautete, dass die ewige Merkel weg muss. Zwar weiß niemand, was ein Politikwechsel genau sein sollte, aber gefühlt hatte das mit dem wichtigsten Entscheidungskriterium in der Politik zu tun, nämlich dem der Weltanschauung, die hinter der ganzen Veranstaltung namens Partei steht. Inzwischen ist das Verwirrspiel der Parteien so perfekt durchgestylt, dass eine Mehrzahl der Wähler dem Irrtum huldigt, dass es einen Lagerwahlkampf, einen Richtungswahlkampf, einen Wahlkampf zwischen Links und Konservativ gar nicht mehr geben könne, da es gar keine differierenden Weltanschauungen mehr gäbe. Das ist ein fataler Irrtum, vor allem der bürgerlichen Mehrheit in diesem Land und auch der bürgerlichen Mehrheiten in den meisten anderen westlichen Ländern.
Eine politisch im eigentlichen Sinn entkernte, mehr faktische als bewusst gelebte konservative Strömung steht einer weltanschaulich zwar zunehmend zerfaserten Linken mit ihrer 150 Jahre alten Geschichte gegenüber, die das einzige der beiden sogenannten Lager, welches noch politische Parteien in dem hehren Sinn des Grundgesetzes bilden und unterhalten kann. Die weltanschaulich begründete Grundrichtung, die existieren muss, damit aus einem Verein eine Partei werden kann, findet sich, wenn auch ziemlich porös und wenig konsequent zu Ende gedacht, in der SPD, in der Linkspartei und bei den Grünen.
Was Schwarz-Gelb nicht geschafft hat
Hier haben Union und FDP gegen ihren eigenen Vertrag verstoßen. Sie wollten den Wehrdienst von neun auf sechs Monate verkürzen, aber die Wehrpflicht erhalten. Zum 1. Juli 2011 wurde der Pflichtdienst für Männer aber durch einen Freiwilligendienst ersetzt. Gleichzeitig leitete der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) überraschend eine große Bundeswehrreform ein.
Die angekündigte Steuerentlastung um bis zu 24 Milliarden Euro im Jahr blieb aus. Eine Minireform, per Umbau des Einkommensteuersystems die «kalte Progression» zu mindern, scheiterte am Widerstand der Länder. Vom Tisch ist ein Stufentarif. Gescheitert sind eine Reform der Gewerbesteuer und eine Neuregelung der Kommunalfinanzen. Die Reform des Mehrwertsteuersystems wurde verfehlt. Das Steuerabkommen mit der Schweiz trat wegen des Länderwiderstands ebenfalls nicht in Kraft. Pläne zur breiten Vereinfachung der Unternehmensbesteuerung wurden aus Kostengründen aufgegeben. Im Kern blieb es beim deutschen Modell zur Konzernbesteuerung statt einer modernen Gruppenbesteuerung.
Das gegen Altersarmut vereinbarte Konzept einer Lebensleistungsrente kommt nicht mehr vor der Wahl. Geplant war, dass Menschen, die ein Leben lang Vollzeit gearbeitet und privat vorgesorgt haben, auch als Geringverdiener ein Alterseinkommen oberhalb der Grundsicherung erhalten. Dieses sollte bedarfsabhängig und steuerfinanziert sein. Auch die vor allem von der CSU angepeilte Besserstellung älterer Mütter bei der Rente muss weiter warten. Nicht umgesetzt wurde bislang die im Koalitionsvertrag versprochene Rentenangleichung Ost/West.
„Wir wollen eine neue, differenziertere Definition der Pflegebedürftigkeit“, verabredeten Union und FDP 2009. Die immer zahlreicheren Demenzkranken sollen verstärkt in die Pflegeversicherung eingruppiert werden. Ende Juni soll ein Expertenbeirat Vorschläge vorlegen - eine entsprechende Reform in dieser Wahlperiode ist aber nicht mehr möglich. Und Kritiker bemängeln, mangels Vorgabe der Regierung zu den Kosten sagen die Vorschläge nichts darüber aus, wer künftig konkret wieviel aus den Pflegekassen bekommen soll.
Bei Mindestlöhnen hat Schwarz-Gelb sich im Koalitionsvertrag nicht festgelegt und dennoch geliefert: Seit 2009 wurden in fünf Branchen Mindestlöhne in Kraft gesetzt.
Das Dauerstreitthema Vorratsdatenspeicherung wird wohl bis zum Ende der Legislaturperiode ungelöst bleiben. Dabei geht es um die anlasslose Speicherung von Telefon- und Internetverbindungsdaten der Bürger zu Fahndungszwecken. Das Bundesverfassungsgericht hatte eine entsprechende Regelung 2010 gekippt. Im Koalitionsvertrag stand dazu lediglich, dass das Urteil abgewartet werden soll. Seitdem streiten aber Union und FDP über die Neufassung. Die EU-Kommission hat Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt, weil Berlin das entsprechende EU-Gesetz nicht in nationales Recht übertragen hat.
Das mit Abstand größte Vorhaben im Innenressort war im Koalitionsvertrag 2009 nicht abzusehen: Als im November 2011 die verstörenden Verbrechen der rechtsextremen „Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) ans Licht kamen, wurde klar, dass die Sicherheitsbehörden dringend reformbedürftig sind. Die Terroristen waren jahrelang mordend und raubend durchs Land gezogen, ohne dass Polizei und Nachrichtendienste ihnen auf die Spur kamen. Vor allem dem Verfassungsschutz steht ein großer Umbau bevor.
Ein Gesetz zur Gesundheitsvorsorge ist seit Jahren geplant - auch von Schwarz-Gelb. Angesichts der ablehnenden Haltung von SPD und Grünen ist aber sehr fraglich, ob das mittlerweile vorliegende Gesetz noch durch den Bundesrat kommt.
Das stand nicht im Koalitionsvertrag, ist aber einer der größten Schwerpunkte dieser Wahlperiode: der Atomausstieg. Zunächst hatte die Regierung 2010 eine Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke beschlossen. Dann sorgte sie 2011 nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima für den Atomausstieg bis 2022. Bei der Förderung zukünftiger Energien - dem Kernstück der Energiewende - gibt es nun aber nicht die von Experten als nötig erachteten Fortschritte.
Die Neuordnung der Bankenaufsicht wurde nicht so umgesetzt wie geplant. Eigentlich sollte die Bankenaufsicht in Deutschland bei der Bundesbank konzentriert werden. Bundesbank und Finanzaufsicht Bafin teilen sich aber nach wie vor die Kontrolle.
Schwarz-Gelb wollte den Salzstock im niedersächsischen Gorleben zunächst weiter als Standort für ein Atommüll-Endlager prüfen und das bestehende Moratorium aufkündigen. Ende 2011 verkündete der damalige Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) aber einen Neustart bei der Endlager-Suche. Das Gesetz ist im parlamentarischen Verfahren - doch sicher war es zuletzt nicht, dass es wirklich kommt.
Das sozialistische Glaubenselement, der ent-individualisierte Wir-Glaube, also die ideologische Sicht, die die Realität durch Wunschdenken ersetzt, ist immer noch eine Minimalerfüllung der Voraussetzung an ein Parteiprogramm. Nur wenn ein Parteiprogramm nicht ein bloßer Haufen von addierten sich meist hemmungslos widersprechenden scheinkonkreten Einzelpositionen ist, sondern die Lücken jeder politischen Programmatik durch einen Credo, durch ein Glaubensbekenntnis gefüllt werden, kann man wirklich von einem Programm sprechen. Das linke Programm ist auch bei der SPD, Godesberg hin oder her, Realpolitiker wie Gerhard Schröder oder Wolfgang Clement hin oder her - im Grunde immer noch auf die mal friedliche, mal demokratische, mal eher revolutionäre Substitution der realen Verhältnisse durch irgendwelche fiktiven idealen Verhältnisse gerichtet. Das ist in Wahrheit wenig, aber es fasziniert viele Menschen seit besagten 150 Jahren und die linke Ideologie ist irgendwie ein politisches Programm. Damit ist man schon in der Diskussion: Was ist ein Parteiprogramm?
Mit dem Parteiprogramm ist ein Ansatz eröffnet von der programmatischen Oberfläche der Parteien tiefer in diese Organisation einzusteigen und sie bis zum Grund zu durchleuchten und zu verstehen. Wichtig ist nämlich nicht in erster Linie, was die Parteien öffentlich programmatisch sagen, sondern viel wichtiger ist in Zeiten der politischen Korrektheit, was die Parteien verschweigen. Und bei allem ist das allerwichtigste, was nonverbal der innere Konsens der Parteien ist, nämlich ihr ideeller oder ihr ideologischer Grundansatz. Die nicht verbalisierte Weltanschauung ist das entscheidende Moment.