




Blindwütiger Aktionismus ist die mildeste aber gleichzeitig auch realistischste Beschreibung der Merkelschen Fukushima-Wende: In vorauseilendem Gehorsam gegenüber der rot-grünen Konkurrenz trat die Kanzlerin vor zwei Jahren die Flucht rückwärts an und verordnete in einem erstaunlichen Alleingang dem eigentlich demokratisch verfassten Land ihren ganz persönlichen Wiedereinstieg in den Ausstieg aus der Atomenergie. Sie und ganz Deutschland schienen getrieben von einer sehr deutschen Hysterie in den Medien, in der Politik und auf der Straße, die auf eine sehr deutsche Weise einen nationalen Sonderweg in Sachen Energie verlangte.
Raus aus der Atomenergie um jeden Preis. Da erschöpfte sich die politische Weisheit der Kanzlerin. Wer allerdings bis eben für die Atomkraft war und, wie Merkel betonte, erst völlig überraschend bekehrt worden sei, musste sich bis dahin um die Alternativen am wenigsten kümmern.
Grüne als Energiewende-Apologeten
Die Grünen (mit ihrer SPD im Schwitzkasten) hätten sich allerdings über die alternativen Stromgewinnungsformen nun schon seit 35 Jahren vorrangig die Köpfe zerbrechen müssen. Eine Partei, die als Anti-AKW-Bewegung entstand und die als Anti-AKW-Partei wesentliche Verantwortung für die gewalttätige Exzesse - siehe auch Startbahn West - der damaligen Zeit trägt, kann sich so nicht aus ihrer Verantwortung stehlen und nach Jahrzehnten immer noch mit leeren Händen dastehen.
Die Energiewende und der Sand im Getriebe
Der Netzausbau ist weit hinter dem Plan zurück. Die Betreiber der teuren Offshore-Windsparks in Nord- und Ostsee sind verärgert, dass es immer neue Verzögerungen gibt, beim Energiesparen gibt es kaum Fortschritte, die Debatte über die Ökostromförderung entwickelt sich zum Dauerbrenner - die Liste ließe sich fortsetzen. Die Regierung muss an zahlreichen Stellschrauben drehen, ein abgestimmtes Konzept ist in vielen Bereichen aber noch nicht erkennbar.
Der Ausbau der erneuerbaren Energie liegt nicht nur im Plan, er übertrifft sogar die Erwartungen. Im ersten Halbjahr 2012 machte Ökostrom erstmals mehr als 25 Prozent am deutschen Strommix aus, insgesamt wurden knapp 68 Milliarden Kilowattstunden ins Stromnetz eingespeist. Die Windkraft hat mit 9,2 Prozent den größten Anteil, vor der Bioenergie mit 5,7 Prozent. Der Anteil der Solarenergie hat sich binnen Jahresfrist fast verdoppelt und liegt nun mit 5,3 Prozent auf dem dritten Platz, vor der Wasserkraft mit vier Prozent.
Der Anstieg der erneuerbaren Energien kann für die Stromkunden teuer werden. Wenn mehr Ökostrom produziert wird, steigt auch die Umlage zur Förderung der Energie aus Sonne, Wind oder Wasserkraft, die über den Strompreis gezahlt wird. Diese ist im Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) festgelegt und liegt aktuell bei 3,59 Cent pro Kilowattstunde. Das bedeutet für einen Durchschnittshaushalt rund 125 Euro Zusatzkosten pro Jahr. Der Aufschlag dürfte sich nun deutlich erhöhen. Spekuliert wird bereits über einen Anstieg auf 5,3 Cent zum Jahreswechsel, was die Kosten für einen Durchschnittshaushalt auf 185 Euro hochtreiben würde.
Das ist noch offen. Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) warnt immer wieder, dass hohe Strompreise die Wettbewerbsfähigkeit gefährden könnten. Er fordert deshalb eine Reform der Förderung. Die Regierung hat jedoch erst 2011 eine Reform des EEG auf den Weg gebracht, die Anfang 2012 in Kraft trat und bei der Solarförderung nochmals verändert wurde. Außerdem ist der Strompreis viel stärker gestiegen als die Ökoenergieförderung. Umweltschützer halten mangelhaftes Energiesparen und pauschale Befreiungen für die stromintensive Industrie für die eigentlichen Preistreiber.
Neben dem Ausbau der Windkraftanlagen an Land gilt der Ausbau der Offshore-Windenergie, also der Windkraftanlagen im Meer, als wichtiger Pfeiler der Energiewende. Bis zum Jahr 2020 sollen vor den Küsten Windenergieanlagen mit einer Kapazität von 10 000 Megawatt zur deutschen Stromerzeugung beitragen. Das sind ungefähr 2000 Windkraftwerke. Gegenwärtig arbeiten in der Nordsee aber erst 28 Anlagen mit 140 Megawatt Leistung. Dazu kommen noch 21 kleinere Windkraftwerke in der Ostsee - macht zusammen gerade einmal 180 bis 190 Megawatt.
Das größte Problem ist nach wie vor die Anbindung der Anlagen in Nord- und Ostsee an das Festlands-Stromnetz. Zudem reichen die Leitungen an Land nicht für den Weitertransport des Windstroms in den Süden Deutschlands. Die Stromerzeuger sehen wegen der Verzögerungen beim Netzanschluss inzwischen die ganze Energiewende in Gefahr. Sie verlangen dringend Klarheit, wer dafür haftet, wenn die Windparks stehen, aber nicht ans Netz gehen können. Wirtschaftsminister Rösler und Umweltminister Peter Altmaier (CDU) haben vorgeschlagen, dass die Verbraucher die Kosten für Verzögerungen über den Strompreis mittragen sollen. Rösler hofft auf eine endgültige Regelung noch im Sommer.
Für die Energiewende werden laut Bundesregierung 3800 Kilometer an neuen Stromautobahnen benötigt. Weitere 4400 Kilometer des bestehenden Netzes sollen fit gemacht werden für die schwankende Einspeisung von Wind- und Sonnenenergie. Die Netzbetreiber haben einen Entwurf für einen Netzentwicklungsplan vorgelegt, bis Mitte August soll eine zweite Version fertig sein. Die Bundesnetzagentur verlangt nun, der Ausbau müsse viel schneller gehen. Rösler fordert deshalb bereits, vorübergehend Umweltstandards außer Kraft zu setzen, so dass zum Beispiel bei Klagen gegen den Bau von Leitungen eine Gerichtsinstanz ausreicht.
Damals war es schick mit einem selbst gestrickten Pullover und einer kleinen Sonnenblume aus Pappe im Haar zu propagieren: zurück zu den Wurzeln, zurück zur Steinzeit. Man mag den Grünen also heute zu Gute halten, dass sie damals gar keinen alternativen Strom wollten, weil sie gar keinen Strom haben wollten und ergo nicht über die Konsequenzen der Abschaltung der Kernkraftwerke nachdachten. Zurück zur Natur, zurück zum Ackergaul, zurück zur Kerze. Joghurt statt Medizin. Das alles war schließlich furchtbar ernst gemeint.
An diese Zeiten erinnern sich die Grünen heute ungern, denn das waren in Wahrheit ja die Zeiten, in denen die maoistisch-kommunistischen Splittergruppen, die politisch Radikalen und sogar Terroristen auf den Ökozug aufsprangen, der die Linksradikalen von der militanten und fanatischen Front bis dahin nicht im Mindesten interessiert hatte. Die fundamentalistischen Grünen lieferten das Öko-Image und die Heiligkeit und die Militanten und die Splittergruppenkommunisten lieferten die Strukturen und die Realo-Machtpolitik, die sich am Ende durchsetzte. Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit lassen grüßen. Der Atomausstieg blieb als eine Art Identifikationsphallus für alle Grünen, alle Pazifisten, alle Feministen, alle Alternativen, alle Anhänger eben.
Atomkraft-Nein-Danke war eine neue Religion
Ein bisschen Selbstkasteiung, ein bisschen Ökopolizisten-Mentalität und ein bisschen Karriere machen, das war angesagt. Aber sich Gedanken darüber machen, wie eine Energiewende in konkreto technisch vollzogen werden könnte, dafür im Angesichte der Anti-Atom-Attitüde keinen Raum. Man fuhr lieber umweltbelastend nach Gorleben oder zu irgendwelchen AKWs, als dass man sich den Kopf darüber zerbrach, wie eine Atomstromfreie Welt aussehen könnte.