Herr Wößmann, in einer neuen Studie zeigen Sie: Die Bevölkerung sieht die Politik beim Thema Bildung in der Pflicht. Vier von fünf Deutschen wollen, dass der Bund alle Schulen mit schnellem Internet und Computern ausrüstet.
Ludger Wößmann: Hier ist zunächst einmal die Zuständigkeit ein Problem: Bildung ist laut Grundgesetz Ländersache. Aber es gibt ja schon Initiativen: Bundesbildungsministerin Johanna Wanka hat ein großes Digitalprogramm aufgelegt...
Zur Person
Ludger Wößmann, 49, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Leiter des ifo Zentrums für Bildungsökonomik. Er zählt zu den führenden Bildungsökonomen in Deutschland.
...fünf Milliarden Euro, um die Schulen digital auszustatten.
Das ist schon eine Hausnummer, wenn man bedenkt, dass der Staat insgesamt pro Jahr rund 60 Milliarden Euro für die Schulen ausgibt. Nur ist es fast ein Jahr her, dass sie das angekündigt hat. Sie hat sich immer noch nicht mit den Bundesländern geeinigt, wie das überhaupt vonstattengehen soll. Es ist auch noch gar nicht im Bundeshaushalt für das nächste Jahr eingestellt. Die Digitalisierung verändert unser Leben viel schneller, als dass wir es uns erlauben könnten, Jahre darüber zu reden, wie wir das überhaupt anpacken können. In den Koalitionsverhandlungen nach der Wahl muss das nach ganz oben. Und selbst dann besteht immer noch die Gefahr, dass das Geld bei den Ländern anderswo verschwindet und gar nicht dort ankommt, wo es hilft: bei den Lehrern und Schülern.
Gibt es weitere Bereiche, in denen ein stärkeres Engagement des Bundes sinnvoll wäre?
90 Prozent der Deutschen wollen, dass wir bundesweit einheitliche Abschlussprüfungen haben. Das halte ich auch für ein sehr wichtiges Thema. Darauf könnten sich die Bundesländer leicht per Staatsvertrag einigen, das ginge trotz Verbots einer Kooperation mit dem Bund.
Es ist absehbar, dass beim Kooperationsverbot auf Jahre hinaus Stillstand herrschen wird: Es sind die Unionsparteien, die sich sträuben, es aufzuheben.
Es bleibt der Bevölkerung nur, mehr Einheitlichkeit einzufordern, damit wir insgesamt die Qualität im Bildungssystem verbessern. Bundeseinheitliche Abschlussprüfungen etwa sind auch wichtig für einen fairen Hochschulzugang. Dort wird im Moment so getan, als wären die Abiturnoten deutschlandweit vergleichbar. Es geht gar nicht darum, die Bildungspolitik vollständig zu vereinheitlichen. Aber wir brauchen mehr Vergleichbarkeit. Ein anderes Beispiel: Viele Bundesländer haben mittlerweile nur noch eine weiterführende Schule neben dem Gymnasium – nur hat die in jedem Land einen anderen Namen und auch eine gewisse andere Ausrichtung bekommen. In einer globalisierten Welt ist das besonders unzufriedenstellend.
Forscher der Bertelsmann-Stiftung warnen vor einem bislang nicht vorhergesehenen Schüler-Boom: Spätestens 2030 dürften deswegen Zehntausende Lehrer fehlen. Panikmache oder Weckruf zur rechten Zeit?
Das ist schon ein Weckruf. Auch wenn es nur grobe Schätzungen sind: Die Zahlen geben her, dass die Geburtenraten in den letzten Jahren deutlich gestiegen sind. Das ist etwas, auf das die Politik reagieren muss. Wir sehen schon jetzt in vielen Bundesländern, dass eigentlich nicht genügend ausgebildete Lehrer vorhanden sind.
SPD, Grüne und Linke fordern einen Ausbau der Ganztagsschulen. Was ist vor dem Hintergrund des Lehrermangels davon zu halten?
In diesem Bereich sieht man, dass sich in den vergangenen zehn Jahren durchaus etwas verändert hat in den Schulen. Für die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie – ein sinnvolles Ziel – ist das gut. Viel weniger wird aber an etwas anderes gedacht: Wie können auch die Kinder und Jugendlichen davon profitieren? Im Moment ist es in der Regel so: Klassischer Vormittagsunterricht, mittags ein warmes Essen und dann ein irgendwie anders geartetes Nachmittagsprogramm, das nicht mal hauptsächlich ausgebildete Lehrer gestalten. Das große Potenzial von Ganztagsschulen liegt aber in einem anderen Rhythmus: Lernzeiten auf der einen und Ausgleichszeiten auf der anderen Seite müssen stärker über den Tag verteilt werden. Das wird bislang nahezu gar nicht umgesetzt.
Geld alleine bringt nicht viel
Hierzulande entscheidet die soziale Herkunft noch immer maßgeblich über Bildungs- und damit Berufschancen. Wieso schafft es Deutschland einfach nicht, mehr Chancengleichheit herzustellen?
Je früher man ansetzt, desto geringer werden die Abhängigkeiten. In Ländern, die Kindern, gerade jenen aus bildungsfernen Schichten, frühzeitig ein qualitativ hochwertiges Bildungssystem bieten, geht die Schere am Ende der Schulzeit nicht so weit auseinander. Wichtig ist auch ein Thema, das in Deutschland nicht gerne diskutiert wird: In Ländern, die früher auf unterschiedliche Schularten aufteilen, ist die Ungleichheit stärker und zwar ohne, dass das Leistungsniveau insgesamt besser wäre, sondern schlechter. Fast nirgendwo auf der Welt, außer in Deutschland und Österreich, werden die Kinder schon nach der vierten Klasse in unterschiedliche Schularten aufgeteilt.
Kompetenzen in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik sind laut Forschung zentral für langfristigen Wohlstand. Deutschland ist unter den Industrieländern neuerdings führend beim Anteil der Studienabschlüsse in den sogenannten MINT-Fächern. Müssen wir uns um unseren Wohlstand also keine Sorgen machen?
Was dabei besonders wichtig ist, sind die Basiskompetenzen. Zwar haben wir uns seit dem Pisa-Schock im Jahr 2000 Stück für Stück ins obere Mittelfeld verbessert, sind aber noch lange nicht in der Spitzengruppe. Erst im vergangenen Jahr hat eine andere OECD-Studie gezeigt: Das Interesse an den MINT-Fächern ist unter deutschen Schülern eher unterentwickelt. Wir können uns also nicht ausruhen.
Unternehmen klagen, immer mehr Auszubildenden fehle es an den nötigen Grundlagen. Investiert der Staat insgesamt zu wenig in Bildung?
Die Forschung gibt gar keinen engen Zusammenhang zwischen den reinen Bildungsausgaben und den Schulleistungen her. Beispiel Pisa: Es ist nicht so, dass Länder, die mehr Geld in die Bildung stecken, automatisch besser abschneiden. Anderes ist wichtiger – klare, vergleichbare Prüfungen und mehr Wettbewerb und Autonomie. Das ist viel wichtiger als die Frage, ob wir noch mehr Geld ausgeben müssen.
Steigende Schülerzahlen in Deutschland - wo ist das Problem?
Schreckensszenario oder wichtige Warnung? Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung steigen die Schülerzahlen in Deutschland bis zum Jahr 2030 viel stärker an als bislang angenommen. Unter dem Titel „Demographischer Wandel ade - Aktuelle Bevölkerungsentwicklung und Folgen für die allgemeinbildenden Schulen“ listen die Forscher aus Gütersloh auf, was an zusätzlichen Kosten auf Länder und Kommunen zukommt und wie gegengesteuert werden kann. Nach ihrer Prognose gibt es bis 2025 rund 4 Prozent mehr Schüler, bis 2030 ist ein Plus von 8 Prozent.
Laut Studienautor Dirk Zorn beruht die offizielle Schülerprognose der Kultusministerkonferenz noch auf Zahlen aus dem Jahr 2012. „Seitdem sind aber zwei Dinge passiert: Fünfmal in Folge ist die Zahl der Geburten gestiegen und wir hatten deutlich höhere Zuwanderungszahlen als erwartet“, sagt der Autor.
Ein Umsteuern im Schulsystem braucht erheblichen zeitlichen Vorlauf. Experten gehen in der Regel von rund sieben Jahren aus, um reagieren zu können. „Das gilt für zusätzliche Lehrkräfte genauso wie für neue Schulgebäude. Die veränderte demografische Entwicklung mit ihren Folgen für die Schülerzahlen muss deshalb jetzt auf die politische Agenda“, sagt Zorn als Fazit.
Berlin plant bereits den Bau von zahlreichen zusätzlichen Schulen. Grund ist hier die seit Jahren ansteigende Bevölkerungszahl in der Hauptstadt.
Die Ausbildung von neuen Lehrern liegt in der Hand der Länder, der Bau von neuen Schulen ist Aufgabe der Kommunen. „Damit sich die Bildungsverwaltung auf die zusätzlichen Schüler einstellen kann, müssen deshalb beide Seiten gut zusammenarbeiten“, sagt Zorn. Terhart dagegen verweist auch auf die persönliche Lebensplanung von angehenden Lehrern. „Hier ist ein sehr genauer Blick nötig. Wir haben heute zum Beispiel einen großen Lehrermangel an Berufsschulen und Grundschulen, aber eben nicht am Gymnasium für die Fächer Deutsch und Geschichte“, sagt der Experte der Uni Münster.
„Der Anstieg der Schülerzahlen war so nicht absehbar. Auch wir haben vor ein paar Jahren noch mit weiter sinkenden Zahlen gerechnet“, sagt Dirk Zorn, der mit Professor Klaus Klemm die Studie erstellt hat. Ewald Terhart von der Universität Münster bezeichnet die Studie als gut und sehr interessant. Aber: Es gebe Grenzen und Lücken. Der Professor warnt davor, die alten und heute falschen Zahlen der Kultusministerkonferenz aus dem Jahr 2012 mit der unsicheren Prognose der Bertelsmann-Stiftung im Vergleich zu vermischen.
Nein, es gibt starke regionale Unterschiede. Ländliche Bereiche sind weniger betroffen als Großstädte und Metropolen. „Hier helfen den Verantwortlichen bei der Planung nur regelmäßig aktualisierte Vorausschätzungen auf kommunaler Ebene“, sagt Zorn. „Wir müssen hier noch zu einer viel feinkörnigeren Betrachtung kommen“, sagt auch Terhart.
Eine stärkere Vereinheitlichung und mehr Wettbewerb – ist das nicht ein Widerspruch?
Die richtige Kombination ist entscheidend. Wenn Eltern und Jugendliche mehr Wahlfreiheit sowohl zwischen öffentlichen als auch Schulen in freier Trägerschaft haben, schneiden die Schüler deutlich besser ab. Wohlgemerkt: Es geht um das Management der Schulen, nicht die Finanzierung. Die Schulen vor Ort wissen viel besser als irgendein zentraler Planer, wie bessere Bildungsergebnisse zu erreichen sind. Vergleichbar wiederum werden die Schulabschlüsse nur durch zentrale Abschlussprüfungen. Sie sind die Währung eines Schulsystems.
Die FDP wirbt dafür, den Schulen Geld nach Schülerzahl zuzuteilen. Sie nennt das Bildungsgutscheine. Ist das ein Gedanke, der hinter dem Wettbewerbsaspekt steht?
Das passt sicherlich gut zusammen. Wenn Schulen pro Kopf finanziert werden, setzt das die richtigen Anreize, sie mit diesen Mitteln wirklich besser zu machen. Chancengleichheit ist aber nur dann gegeben, wenn diese Gutscheine nicht durch private Mittel aufgestockt werden dürfen. Man kann auch darüber nachdenken, dass Schulen für Kinder aus schwierigen Verhältnissen mehr Mittel bekommen, damit sie diese Kinder noch stärker fördern können.
Die ganze Welt, so hat man oft den Eindruck, beneidet Deutschland um die duale Berufsausbildung. Mittlerweile studieren aber fast zwei Drittel eines Jahrgangs, viele Lehrstellen bleiben unbesetzt. Sehen Sie diese Entwicklung mit Sorge?
Das sehe ich zwiespältig. Ich finde es nicht ehrlich, wenn Unternehmen sagen: Wir brauchen mehr Facharbeiter, mehr Leute mit einer Ausbildung, aber gleichzeitig sind die Einkommensunterschiede zu Akademikern so groß. Bereitschaft, die entsprechenden Gehälter zu zahlen, muss also der erste Ansatz sein. Das Wichtigste ist, dass wir die Vorteile unserer beiden Systeme verbinden: Es darf nicht nach zehn Jahren Schule plus drei Jahren Ausbildung Schluss sein mit Lernen. Es muss möglich sein, mit dualen Studiengängen oder einem entsprechenden Fachhochschulstudium mehr Kompetenzen zu erwerben.
Sprich: Weiterbildung und die Möglichkeit, eine andere Bildungsrichtung einzuschlagen zu können, werden immer wichtiger?
Absolut. In einer sich digitalisierenden Welt, die sich ständig verändert, sind berufsspezifische Kompetenzen nach 20 Jahren möglicherweise gar nicht mehr nachgefragt. Menschen, die eine duale Berufsausbildung gemacht haben, bilden sich im späteren Leben weniger weiter als Leute mit einer Hochschulausbildung. Eigentlich müsste es genau umgekehrt sein.