Bildungsaufsteiger in Chefetagen Arbeiterkinder werden ausgebremst – das können wir uns nicht mehr leisten

Kinder aus Nichtakademikerfamilien studieren deutlich seltener als Kinder, deren Eltern Akademiker sind. Quelle: dpa

Parteien werben oft mit „Aufstiegsversprechen“. Dabei geht es nicht nur um individuelle Chancen. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, muss Deutschland Kinder aus Nichtakademikerfamilien besser fördern – nicht nur finanziell. Ein Gastbeitrag.

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Katja Urbatsch ist Mitgründerin und Geschäftsführerin von Arbeiterkind.de. Die gemeinnützige Organisation unterstützt Schülerinnen und Schüler dabei, als Erste in ihrer Familie zu studieren.

Auf den ersten Blick sind es gute Nachrichten: Die Zahl der Studienanfängerinnen und -anfänger ist in Deutschland in den vergangenen Jahren stetig gestiegen. Das ist erfreulich, denn der Bedarf an hoch qualifizierten Fachkräften wächst enorm. Jedoch stammt der Großteil dieser Studierenden aus Akademikerfamilien, während Kinder aus Familien ohne Hochschulerfahrung deutlich weniger repräsentiert sind: Von 100 Kindern aus Akademikerfamilien beginnen 79 ein Hochschulstudium, aus Nichtakademikerfamilien gehen nur 27 von 100 Kindern studieren, obwohl deutlich mehr die Hochschulzugangsberechtigung erworben haben. Das zeigt die jüngste verfügbare Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung vom Mai 2018. Arbeiterkinder werden offensichtlich weiter ausgebremst. Das kann sich aber kein Land leisten, das auch international im Wettbewerb um Spitzenkräfte steht. Was aber hält Arbeiterkinder davon ab, andere Wege zu beschreiten als ihre Eltern?

Noch immer spielt die soziale Herkunft eine zentrale Rolle bei der Gestaltung des Bildungsweges. Auch wenn das Bildungssystem seit dem Pisa-Schock 2001 insgesamt durchlässiger geworden ist, erweist sich die soziale Herkunft nach wie vor als Hürde. Schon in der Schule sind Schülerinnen und Schüler benachteiligt, die wenig bis gar keine Unterstützung aus der Familie erhalten – denn die Elternmitarbeit bei schulischen Aktivitäten wie Hausaufgaben und Prüfungsvorbereitungen wird in unserem Bildungssystem vorausgesetzt. Die Pandemie hat diese Situation leider verschärft.

Viele Schülerinnen und Schüler können nur über ein Smartphone mit der Schule kommunizieren, sie haben keine Rückzugsmöglichkeit, keinen Raum für tägliches Arbeiten, erfahren keine Hilfe seitens der Familie – was schon vor der Coronakrise ein Problem war, wurde in den vergangenen Monaten des Homeschoolings noch erheblich verstärkt. Die aktuell geplanten „Aufholprogramme“ dürften nur wenig bringen, um dieses grundsätzliche Defizit nachhaltig anzugehen.

Beim Zugang zu höherer Bildung spielt aber auch die Erwartungshaltung eine Rolle. Denn was sich der junge Mensch selbst zutraut, wird durch Erwartungen und Ermutigungen bestimmt. Ohne Schlüsselbegegnungen mit Menschen, die Potenziale erkennen, oder diese als soziale Paten fördern, gelingt der Aufstieg nur schwer. Hier können Organisationen mit persönlichem Mentoring helfen, die informellen, auch emotionalen Hürden zu überwinden.

Doch Förderung darf nicht dem Zufall überlassen sein, wir brauchen konsequente Investitionen in Chancengerechtigkeit. Und ein Bewusstsein für Gerechtigkeit bei den Entscheidungsträgern. Denn Wahlfreiheit muss für alle bestehen, ob Arbeiterkind oder Akademikerkind. Eine der größten Herausforderungen stellt dabei die Studienfinanzierung dar.

Das komplizierte Antragsverfahren für das Bafög ( Bundesausbildungsförderungsgesetz) ist abschreckend, Schulden zu machen ist in vielen Familien nicht akzeptiert. Eingeführt als Vollzuschuss, schuf das Bafög anfangs eine Aufbruchstimmung, die zu einer Bildungsexpansion führte. Die Menschen haben sich eingeladen gefühlt, ein Studium aufzunehmen, was vor 50 Jahren nicht selbstverständlich war. Inzwischen ist das Bafög als Halbdarlehen mit Deckelung bei 10.000 Euro angelegt, das sind bei acht Semestern Studienzeit 2500 Euro pro Jahr. Studienfinanzierung muss aber nicht nur die Bedürfnisse des täglichen Lebens berücksichtigen, sondern auch technische Ausrüstung, Umzug, Kaution und Semestergebühren. Ohne Rücklagen ist der Schritt in ein Studium sonst ein zu großes Wagnis. Hier braucht es neben dem politischen Willen vor allem Mut, um das Bafög grundlegend neu aufzusetzen.



Sind all diese Hürden genommen, herrscht nach dem Ende des Studiums aber keineswegs Chancengleichheit. Wenn die breite bildungsbürgerliche Allgemeinbildung fehlt, ebenso wie eine optimistische unternehmerische Einstellung und die Souveränität und Selbstsicherheit im Auftreten, wird der Zugang zu den Top-Positionen der Wirtschaft erschwert. Denn gerade für solche Spitzenpositionen werden Bewerberinnen und Bewerber ausgewählt, die in Persönlichkeit und Werdegang den Top-Managern ähnlich sind – in der Annahme, das die Bewerber ähnlich agieren werden wie sie.

Zwar werben Politik wie Wirtschaft für Diversität, doch die Realität zeigt auch in Bezug auf die Gleichwertigkeit von beruflicher Ausbildung und akademischer Bildung ein anderes Bild: So liegt der Anteil von Akademikerinnen und Akademikern in Dax-Vorständen bei 95 Prozent, in den Parlamenten bei 80 Prozent.

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Immerhin nimmt die Durchlässigkeit des Bildungssystems inzwischen an vielen Hochschulen einen größeren Stellenwert ein. Im Januar wurde die Kategorie Soziale Herkunft aufgenommen in die Charta der Vielfalt, einem Zusammenschluss großer Unternehmen unter der Schirmherrschaft von Angela Merkel (CDU) für mehr Diversität. Ein wichtiges Signal: Soziale Herkunft ist eine Stärke, die Wettbewerbsvorteile und Innovationskraft birgt. Menschen, die sich gegen viele Widerstände in ihrem Leben durchgesetzt, die Resilienz und Lösungskompetenz bewiesen haben, sind heute und künftig unverzichtbar für Gesellschaft und Demokratie. Es wird Zeit, dass diese Eigenschaften stärkere Wertschätzung erfahren.

Mehr zum Thema: Kinder haben Priorität, hieß es nach dem ersten Lockdown. Doch auch fünfzehn Monate nach Pandemiebeginn kommt die Digitalisierung der Schulen kaum voran, wie etwa das Beispiel fehlender Tablets und Computer zeigt.

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