Bildungsmisere Deutsche Schulen sind doppelt überfordert

Schule am Limit. Quelle: dpa Picture-Alliance

Die Bildungsausgaben steigen und dennoch kommen Katastrophenmeldungen aus den Schulen: Es liegt eben nicht an Geldmangel, sondern an falscher pädagogischer Ideologie - und Überforderung durch „Heterogenität“.

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Schaut man nur aufs Geld, scheint es aufwärts zu gehen mit der Bildung in Deutschland. Laut dem vor wenigen Tagen veröffentlichten „Bildungsfinanzbericht 2017“ stiegen die öffentlichen Bildungsausgaben im Jahr 2016 um 3,5 Prozent auf 128,4 Milliarden Euro. Ziemlich genau die Hälfte davon (49,9 Prozent) geben Bund, Länder und Kommunen für allgemeinbildende Schulen aus.

Dass Bildung wichtig und dafür mehr Steuergeld locker zu machen ist, dürfte eine der widerspruchslosesten Politbanalitäten sein. „Mehr Geld für Bildung“ war auch mehr oder weniger unisono in allen Wahlprogrammen des Superwahljahres 2017 zu lesen. Doch offenbaren einige andere Nachrichten, die fast gleichzeitig mit dem Bildungsfinanzbericht bekannt wurden, dass zwischen wachsenden Bildungsausgaben und einem gut funktionierenden Bildungssystem kein einfacher kausaler Zusammenhang bestehen muss. Ein Bildungssystem kann offensichtlich auch in die Binsen gehen, obwohl es immer besser finanziert wird.

Die jüngsten Nachrichten aus deutschen Schulen sind eine Abfolge von Katastrophenmeldungen. Besonderes Aufsehen erregte die Saarbrücker Bruchwiese-Gemeinschaftsschule. Deren Lehrerkollegium hat, wie kürzlich bekannt wurde, im Sommer einen gemeinsamen Brief an den saarländischen Kultusminister Ulrich Commerçon geschickt, der einem pädagogischen Offenbarungseid gleichkommt: Sie hätten „Angst, bestimmte Schüler zu unterrichten.“ Wobei von einem Unterricht offenbar ohnehin kaum noch die Rede sein kann: Drogen, Alkohol, unflätige Beschimpfungen gegen die Lehrer und Gewalt unter den Schülern bestimmen offenbar den Alltag.

Striche zählen und Werte ablesen

Die Saarbrücker Gemeinschaftsschule ist eine „Brennpunktschule“ mit einem Migrantenanteil von 86 Prozent und allein 61 Kindern ohne oder mit nur geringen Deutschkenntnissen. Dazu kommen zahlreiche so genannte Inklusionskinder, die früher auf Sonderschulen betreut worden wären, also „Schüler mit Förderbedarf im Bereich der geistigen Entwicklung“, „im Lernen“ oder mit „emotional-sozialer Beeinträchtigung“. Im Saarland wurde Inklusion besonders eifrig und völlig überstürzt umgesetzt. Das rächt sich jetzt offensichtlich.

Die Situation an der Saarbrücker Schule mag besonders schlimm sein, aber ihre Probleme sind keine Ausnahme. Es gibt unzählige Schulen, deren Schülerschaft so „heterogen“ ist, dass ein Fachunterricht herkömmlicher Art kaum noch möglich ist.

Und die Probleme beginnen auch längst nicht erst in den weiterführenden Schulen. Im November hatte eine Lehrerin einer Frankfurter Grundschule in einem Gastbeitrag für die "Welt" aus ihrem Alltag berichtet: „In unseren Klassen haben wir 90 bis 100 Prozent Kinder mit Migrationshintergrund. Das Deutsch dieser Kinder reicht meist kaum für ein vernünftiges Unterrichtsgespräch.“ Dazu komme, dass „Lern- und Leistungsbereitschaft stetig abnehmen: Was ich vor 20 Jahren mit Zweitklässlern machen konnte, das schaffen heute die Viertklässler kaum.“

Solche anekdotische Evidenz wird durch die jüngsten empirischen Bildungsstudien leider nicht entkräftet. Im Gegenteil: Vor wenigen Wochen zeigte die „Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung“ (IGLU) ein ernüchterndes Ergebnis für Deutschland.

Viele Kinder mit nur rudimentären Kenntnissen

Die seit 2001 alle fünf Jahre durchgeführte Studie, an der 47 Staaten teilgenommen hatten – davon 28 Staaten im Bereich der OECD – erfasst Lesekompetenz durch die Darbietung von Sach- und Erzähltexten, mit denen die Prozesse des Leseverstehens anhand von vier Kriterien bestimmt werden sollen: Angegebene Information abrufen; einfache Schlussfolgerungen ziehen; komplexe Schlussfolgerungen mit textunabhängig verfügbarem Vorwissen ziehen; prüfen und bewerten des Inhalts eines Textes und seiner sprachlichen Gestaltung.

In Deutschland wurden rund 4000 Viertklässler, etwa 3000 Eltern, 200 Deutschlehrer und 190 Schulleiter befragt.

Der in Deutschland erreichte Mittelwert von 537 Punkten entspricht in etwa dem von Kasachstan (536) und liegt unter dem Durchschnitt aller teilnehmenden EU-Staaten (540 Punkte) sowie OECD-Staaten (541 Punkte). In 20 Staaten können Grundschüler wesentlich besser lesen als in Deutschland. In der EU schneiden Irland, Finnland, Nordirland, England, Lettland, Schweden, Ungarn, Bulgarien, Litauen, Italien, Dänemark und die Niederlande besser ab. Vor allem die Streuung zwischen den Lesern auf höchster und niedrigster Kompetenzstufe ist mit 78 Punkten in Deutschland besonders stark ausgeprägt.

Während die Werte für Deutschland sich seit 2001 (539) verschlechterten, konnten andere Staaten und Regionen in diesem Zeitraum deutliche Leistungssteigerungen verbuchen: die Russische Föderation (+53), Singapur (+48), Hongkong (+41), Slowenien (+41), Norwegen (+18) und die Slowakei (+17). Soll man sich damit trösten, dass Kinder in Frankreich (-14), den Niederlanden (-9) und Flandern (-22) noch schlechter wurden?

Ein ähnliches Ergebnis zeigte kurz zuvor der „Bildungstrend“ des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen gezeigt: Viele Kinder verlassen die Grundschule mit nur rudimentären Mathematikkenntnissen und können nicht korrekt schreiben und „zuhören“.   

Der Frankfurter Didaktik-Professor Hans-Peter Klein, ein Kritiker der Bildungsreformen der vergangenen Jahre, spricht von einer „gefährlichen Abwärtsspirale im deutschen Bildungssystem“. Er macht dafür auch den fortschreitenden Verzicht auf Wissensinhalte zu Gunsten fachunabhängiger „Schlüsselkompetenzen“ in den Lehrplänen verantwortlich. Kinder in Deutschland zeigten dementsprechend bei IGLU deutlich schlechtere "wissensbasierte" (530) Verstehensleistungen als "textimmanente" (546 Punkte).

„In der Studie wird ausdrücklich betont, dass demgegenüber Schülerinnen und Schüler in 19 Teilnehmerstaaten bei den wissensbasierten Verstehensleistungen signifikant bessere Ergebnisse erreichen als bei den textimmanenten, darunter alle die, die auch in der Gesamtskala bessere Leistungen erreichen“, sagt Klein.

"Exportweltmeister in Teamarbeit"?

Erschwerend für Deutschland kommt hinzu, dass laut IGLU fast 20 Prozent der Grundschüler nicht die Kompetenzstufe III erreicht haben. Das heißt sie können explizit angegebene Informationen nicht identifizieren. Diese Kinder werden mit erheblichen Schwierigkeiten beim Lernen in allen Fächern bereits in den ersten Schuljahren der weiterführenden Schule konfrontiert sein. In 13 Staaten, darunter Tschechien, England, Dänemark, Litauen und Italien, ist dieser Anteil signifikant niedriger als in Deutschland. Nur in Frankreich und Belgien ist er höher.

Nach seinen Erwartungen für die ökonomischen Folgen der deutschen Bildungsreformen befragt, wird Klein ironisch: „Nicht nur die Chinesen werden jetzt schon erzittern, wenn Deutschland in Zukunft zum Exportweltmeister in Teamarbeit ausgezeichnet wird, die innovativen Produkte aber dort erstellt und weltweit verkauft werden“.

Wenn die politische Redewendung zutreffend ist, dass Bildung die einzige oder zumindest wichtigste Ressource der deutschen Volkswirtschaft ist, dann sind deren mittel- bis langfristige Aussichten längst nicht so rosig, wie die aktuelle Konjunkturlage.

Klein erklärt die internationalen Unterschiede dadurch, dass die besser platzierten Staaten im Gegensatz zu Deutschland deutlich weniger mit Migration konfrontiert seien. Auch Petra Stanat, Mitautorin des „Bildungstrends“ erklärt die unbefriedigenden Ergebnisse vor allem durch die stark gestiegene „Heterogenität“, also den hohen Anteil von Migrantenkindern und die „Inklusion“ von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf.

Dabei sind die Schulerfolge oder -misserfolge der Kinder der jüngsten Einwanderungswelle von 2015/16 zum größten Teil noch gar nicht im Bildungstrend und IGLU erfasst. Diese Offenbarung steht dem deutschen Bildungswesen noch bevor.

Kleins Fazit: „Die mehr als fragwürdigen Sprüche einiger ‚Reformer‘, die zunehmende Heterogenität der Schülerschaft sei eine Chance für alle, da alle voneinander lernen könnten oder die vom gleichen Klientel häufig zu hörende Äußerung, je größer die Heterogenität, desto höher der Lernerfolg, wirkt auf viele Praktiker vor Ort als blanker Hohn.“

Vermutlich ist selbst ein einstmals führendes und weltweit vorbildliches Bildungssystem wie das deutsche grundsätzlich überfordert, wenn es gleichzeitig von pädagogischen Heilslehren wie der Kompetenzorientierung und von einer immer „bunteren“ Schülerschaft in Anspruch genommen wird. Diese Einschätzung spricht zumindest aus dem Schlusssatz des Brandbriefes des Saarbrücker Lehrer: "Niemand ist verpflichtet, etwas objektiv Unmögliches zu leisten!"

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