Bildungspolitik Auf den Spuren von Bologna

Die eine Frau setzte die umstrittene Bologna-Reform um. Im Zuge dieses Prozesses wurde die alte und verstaubte deutsche Hochschule komplett umgebaut. Die andere Frau steht kurz vor ihrem Bachelor-Abschluss. Nun begegnen sich Margaret Wintermantel und die Studentin Josephine Dietzsch in Berlin.

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Margret Wintermantel und Josephine Dietzsch Quelle: Werner Schüring für WirtschaftsWoche

Zwischen Margret Wintermantel und Josephine Dietzsch liegen vier Jahrzehnte und eine veränderte Welt. 1966, die Studentenbewegung und ihr Kampf gegen den Muff von 1000 Jahren unter den Talaren sind noch ein paar Jahre entfernt, schreibt sich Margret Wintermantel an der Universität Mainz für Psychologie ein. Druck gehört genauso wenig zur Grundausstattung ihrer Generation wie Angst oder Zweifel an der Zukunft.

Natürlich wird sie eines Tages mit ihrem Diplom einen Job finden. Sie ist neugierig, politisch und, ja, frei. Bologna? Ist für Wintermantel und ihre Kommilitonen eine Stadt in Italien, der Geburtsort der ältesten Universität Europas. Aber sonst?

Für Josephine Dietzsch und ihre Mitstudenten ist Bologna heute eine Realität, mit der sie zu kämpfen haben – und für viele außerdem ein Schimpfwort. Was hatten die europäischen Bildungsminister 1999 nicht alles versprochen, als sie den Bologna-Prozess in Gang setzten? Wir schaffen einen europäischen Hochschulraum und mit Bachelor und Master vergleichbare Abschlüsse.

Wir sorgen für mehr Auslandsaufenthalte und eine fundiertere Berufsvorbereitung, kurzum: für ein besseres Studium.

Und nun?

Zeit für eine Bilanz. An einem Ort, wo Bologna jeden Tag passiert: in Berlin, Unter den Linden, Humboldt-Universität. Es klirrt und brummt in der Cafeteria. Hier trifft Margret Wintermantel, Präsidentin der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), auf die Studentin Josephine Dietzsch, die in diesem Jahr ihren Bachelor macht. Von 2000 bis 2006 hat Wintermantel die Universität des Saarlandes geleitet.

Veränderungen wurden nicht erkannt

In den vergangenen zwölf Jahren war sie als Chefin der Uni-Chefs die wichtigste Bologna-Lobbyistin im Land. Nun sagt sie: „In den Hochschulen wurde nicht überall sofort erkannt, welche grundlegende Veränderung Bologna bedeutet.“ Josephine Dietzsch nickt, sie merkt das heute noch.

Ein Zurück aber ist längst unmöglich: Mehr als 13 000 Bachelor- und Master-Studiengänge bieten die deutschen Universitäten, Fachhochschulen, Kunstakademien und Musikhochschulen mittlerweile an. Abgesehen von den letzten Refugien der juristischen und medizinischen Staatsexamina, schließen mittlerweile nahezu alle Studiengänge mit den neuen Abschlüssen ab.

An den Fachhochschulen existieren praktisch keine anderen mehr. Es drängen zwar noch immer vereinzelte Absolventen mit den alten Abschlüssen auf den Arbeitsmarkt, aber für die heutigen Erstsemester taugen Diplom und Magister nur noch als Gegenstand historischer Oberseminare.

Als Dietzsch 2009 ihr erstes Semester an der Humboldt-Universität verbringt, ziehen ihre Kommilitonen protestierend durch die Straßen. Auf ihren Plakaten steht: „Da sitz’ ich nun mit Bachelor und bin so klug als wie zuvor.“ Die 22-Jährige hat sich „den Zorn meiner Kommilitonen nie ganz zu eigen gemacht“.

Alte Inhalte in neue Form gepresst

Josephine Dietzsch Quelle: Werner Schüring für WirtschaftsWoche

Aber sie sagt auch: „Die Unis haben einfach versucht, alte Inhalte in eine neue Form zu pressen. Das wäre so, als hätten Sie zu Hause eine Kiste mit Gewürzen, und diese verteilen sie nun einfach auf zwei Kisten.“

Dietzsch engagiert sich an vorderster Spitze in der Liberalen Hochschulgruppe, sie ist informiert und reflektiert. „Die Proteste überhöhten eine Zeit, die vergangen ist“, meint sie. Da hört die HRK-Chefin, trotz des Geräuschpegels um sie herum, aufmerksam und wohlwollend zu. Dietzsch findet, die Studenten müssten „gestalten, statt destruktiv zu kritisieren oder Lehrveranstaltungen zu blockieren“.

An manchen Hochschulen passierte die Gestaltung von oben jedoch dermaßen lieb- und geistlos, dass die Studentenproteste 2009 bis ins Berliner Büro von Margret Wintermantel vordringen. Die HRK-Chefin erzählt, wie ein Student während einer Diskussion plötzlich auf ihren Tisch springt. Ein Schreckmoment. Die Wut kann sie verstehen, vergessen hat sie sie nicht.

Besser über etwas anderes reden, woanders: Im Foyer der HU prangt eine Gedenktafel zu Ehren des Universitätsgründers Wilhelm von Humboldt. Aus dem Erdgeschoss steigen die beiden Frauen ein paar marmorne Stufen hinauf in den ersten Stock. Dort hängt die Inschrift mit dem berühmten Prunkzitat von der Wissenschaft „als etwas noch nicht ganz Gefundenes, und nie ganz Aufzufindendes“.

Der preußische Reformer schrieb den Satz 1810, gedacht als feierliches Vademecum zur Gründung seiner Universität.

Einheit von Forschung und Lehre

Humboldt, seufzt Wintermantel, als sie die Tafel erblickt. Aber kann auch eine Studentin im Jahr 2012 mit den hehren Idealen von einst noch etwas anfangen? Dietzsch kann, zumindest meistens. „In meinem Fach Europäische Ethnologie gehört Forschung glücklicherweise immer zum Lernen dazu“, erzählt sie, noch immer so, wie es sich Humboldt mit der Einheit von Forschung und Lehre wohl gewünscht hatte.

Doch sie ist nicht blind: Viele Hochschulen, ihre Rektoren und Professoren, gemeinsam mit den Landesbürokratien – sie alle haben den Bologna-Prozess lange nicht als Chance begriffen, sondern als Ärgernis. In Berlin und überall sonst auch. „So eine Reform geht nicht über Nacht“, verteidigt sich Wintermantel. „Da ist es normal, dass Fehler passieren.“

Natürlich bräuchte man in den Hochschulen „intensive Diskussionen“, um einen guten Studiengang aufzubauen. „Wo man das berücksichtigt hat, ist Gutes entstanden.“

Die Studentin Dietzsch mag liberal sein, offen für die Reform, aber das kann sie nicht unwidersprochen lassen. Denn sie kennt viele Studenten, die kaum noch Vorlesungen außer der Reihe besuchen, weil sie schlicht keine Zeit dazu mehr haben. Die sich all den Stoff zu Hause einpauken oder sich drei Monate vor den Klausuren in der Bibliothek einschließen.

Das Bulimie Lernen füllt den ganzen Tag aus

Margret Wintermantel Quelle: Werner Schüring für WirtschaftsWoche

Studentenorganisationen, die sich über dramatischen Mitgliederschwund beklagen, weil die Uni den Tag beinahe komplett ausfüllt. „Das hat etwas von Bulimielernen: Wissen in sich reinstopfen und dann auf Kommando ausspucken“, entgegnet sie. Mit hehren Idealen jedenfalls hat es nichts mehr zu tun.

Den Andrang auf die akademische Bildung hat das bislang nicht gestoppt. Im laufenden Wintersemester besuchen 2,4 Millionen Studenten in Deutschland eine Hochschule, so viele wie niemals zuvor. Mittlerweile studiert jeder Zweite eines Jahrgangs. Und die Zahl der Absolventen, die jedes Jahr als Bachelor of Arts oder Bachelor of Science ihre Alma Mater verlassen, hat bereits die Marke von 70 000 überschritten.

Dass die Akademiker der Generation B.A. nicht nur mit kosmopolitischer klingenden Titeln, sondern mit besserer Ausbildung auf den Arbeitsmarkt drängen, bleibt dennoch vages Versprechen, mehr nicht.

Belege, dass ein dreijähriger Bachelor allein kaum das Rüstzeug für Leben und Arbeitsmarkt liefert, geben die Absolventen selbst. Offiziell soll der Bachelor ein „erster berufsqualifizierender Abschluss“ sein. Doch fast vier von fünf fertigen Studenten reicht das nicht: Sie machen direkt noch einen Master.

Auch Josephine Dietzsch hat das vor. Wenn sie dieses Jahr fertig wird, will sie gleich das zweite Studium dranhängen und sich gar nicht erst um einen Job bemühen.

Was denkt sie denn über den Berufseinstieg? „Natürlich mache ich mir Sorgen“, ist die Antwort. „Aber ich wollte ehrlich zu mir selbst sein und das tun, was ich gerne tue.“

Die Zufriedenheit bei Jobstartern ist gesunken

Nur aus der Unsicherheit vieler Studenten ist die Schärfe zu verstehen, mit der die Debatten um Übergangsquoten und Notenhürden für einen Master-Studienplatz geführt werden. Die Studenten misstrauen einer Reform, die aus Elfenbeinturm-Dauermietern im 15. Semester junge, selbstbewusste Arbeitnehmer machen sollte.

Die angehenden Akademiker beweisen damit gutes Gespür. Als die Deutschen Industrie- und Handelskammern (DIHK) im vergangenen Jahr Unternehmen zu den Bologna-Absolventen befragten, waren die Ergebnisse ziemlich ernüchternd. Im Vergleich zu den Eindrücken vier Jahre zuvor war die Zufriedenheit mit den Jobstartern leicht gesunken.

„Die Umsetzung der Hochschulreformen zeigt aus Sicht der Unternehmen keine Fortschritte“, bemängelte der DIHK. Dabei hatten mittlerweile doppelt so viele Firmen ihre Erfahrungen mit den Bologna-Absolventen gemacht.

Vor allem die mangelnde Alltagstauglichkeit stieß den Personalern auf. „Gute, auf die Praxis bezogene Lehre hat noch nicht den Stellenwert an den Hochschulen, den wir uns wünschen würden“, bilanziert Kevin Heidenreich, der Bildungsexperte der DIHK. Das Zauberwort von der „Employability“, der Berufsbefähigung, habe sich bislang „als eine Fata Morgana“ erwiesen, sagt auch der Hochschulforscher Tino Bargel von der Universität Konstanz. Und dass, obwohl fast kein Student mehr den Campus ohne ein oder gar mehrere Praktika verlässt.

13 Jahre nach der Reform endlich ein wenig Kritik

Ein Denkmal für Alexander von Humboldt vor dem Eingang der nach ihm benannten Universität in Berlin. Quelle: dpa/dpaweb

Viel zu tun also. „In den letzten Jahren hat es in den Hochschulen tief greifende Veränderungen gegeben“, macht Margret Wintermantel Hoffnung. „Und den Weg der Qualitätsverbesserung müssen alle Beteiligten weitergehen.“ Vergangene Woche legte Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) den jüngsten Bericht zur Umsetzung der Bologna-Reform vor.

Darin fand sich vor allem viel Lob und nur ein kleiner Hinweis, dass es „im Einzelnen durchaus berechtigte Kritik“ gäbe – 13 Jahre nach Beginn der Uni-Reform.

Eine gewisse Untertreibung angesichts der noch kommenden Herausforderungen. Denn die Studenten werden dank kürzerer Schulzeit und gestrichener Wehrpflicht immer jünger, der Migrantenanteil steigt und auch die Zahl derer, die ohne Abitur an die Unis drängen. Eine „bessere Organisation des Studiums“ sei mittlerweile Fakt, ebenso wie eine „größere Transparenz“, da ist sich Margret Wintermantel sicher.

Die Hochschulen haben Vorlesungen und Seminare zu sogenannten Modulen umgebaut, für die es keine Scheine mehr gibt, sondern Credit Points, je nach zeitlichem Aufwand. 180 müssen es nach drei Jahren sein. „Die Studenten wissen heute sehr viel besser, welche Kompetenzen in den Studienprogrammen vermittelt werden – und welche Berufsfelder ihnen damit offenstehen“, sagt Wintermantel. „Das ist gut so.“

Die Reform ist an den Grenzen der Bürokratie gelangt

Josephine Dietzschs Replik klingt da anders. Sie wird verunsichert, wenn sie das Versprechen der größeren Mobilität einlösen will, nach einem Semester im Ausland etwa. „Man muss sich am besten vorher von der Uni alles dreimal schwarz auf weiß geben lassen, was hinterher anerkannt wird“, klagt sie. Und selbst dann sei es „immer noch sehr abhängig von der Kulanz der Verwaltung“, Credit Points hin oder her.

Einfach ein halbes Jahr dranhängen zu müssen, weil die im Ausland gesammelten Punkte vielleicht nicht zählen, will sie sich als Bafög-Empfängerin nicht leisten.

So gerät eine Reform aus dem Geiste der Verschulung an ihre bürokratischen Grenzen. Die verbleibende akademische Freiheit zwängt sich in ein Punkteraster. Laut des Bologna-Berichtes der Regierung geht rund ein Drittel der Studenten ins Ausland, jeder zweite soll es eines Tages sein. Die starre Struktur der Bachelor-Studiengänge, da sind sich Dietzsch und Wintermantel einig, ist eine der Hürden auf diesem Weg.

Als Wilhelm von Humboldt 1810 sein Modell einer Universität in Worte fasste, da forderte er, „die Trennung der höheren Anstalt von der Schule rein und fest zu erhalten“. Für dieses Vermächtnis war auf der Tafel im Foyer bisher kein Platz.

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