Bildungspolitik Welche Bildungsangebote brauchen Flüchtlinge?

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Bildung ist auch Kultur, Werte und Normen

Drittens noch der Aspekt "was wird gelernt?": Geradezu gebetsmühlenartig wird gefordert, Integration gelingt umso besser, je schneller Flüchtlinge in Arbeit gebracht werden – und deshalb rangiert die Sprachförderung an erster Stelle. So wichtig Arbeit für das Leben des einzelnen Menschen ist, so wenig erschöpft sich Integration, geschweige denn Bildung darin. Mag es aus bildungsökonomischer Sicht noch gerechtfertigt sein, den Wert des Menschen an seinem Humankapital zu bemessen, bildungsphilosophisch ist es das nicht.

Denn unter diesem Blickwinkel ist nicht die Frage entscheidend, wie viel Geld ich verdiene, wie groß mein Anteil am wirtschaftlichen Wachstum meines Unternehmens ist oder wie viel Geld ich in das Sozialsystem eingezahlt habe, sondern die Frage, was ich aus meinem Leben gemacht habe, ob es mir gelungen ist, ein erfülltes und glückliches Leben gelebt zu haben. Dass Sprache hierfür wichtig ist, ist nicht erst seit Wilhelm von Humboldts Überlegungen zum Zusammenhang von Bildung und Sprache bekannt.

Bildung ist mehr als lesen und schreiben können

Insofern ist die Fokussierung auf eine Sprachförderung auf Seiten der Flüchtlinge sicherlich gerechtfertigt. Aber bleiben die Bemühungen hierbei stehen, wird der Zusammenhang von Bildung und Sprache nur gestreift. Denn Sprache ist mehr als der mündliche und schriftliche Sprachgebrauch. Sprache ist Begegnung von Mensch zu Mensch, ist gelebte Kultur, enthält Werte und Normen, die in einer Gesellschaft gelten und für wichtig und richtig erachtet werden. Folglich wird es im Zug von Bildungsbemühungen zur Integration von Flüchtlingen auch darum gehen müssen, neben der Sprache auch die Kultur und die Werte zu thematisieren.

Integration erfordert Enkulturation. Die Worte von Johann Wolfgang von Goethe geben in diesem Kontext einen wichtigen Hinweis: „Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen.“ Soll heißen: Bildungsangebote für Flüchtlinge dürfen sich nicht nur darauf beschränken, Bildungsinhalte anzubieten, die für das zukünftige Leben in Freiheit wichtig und in einer neuen Heimat grundlegend sind, sondern auch Bildungsinhalte aufzugreifen, die das bisherige Leben bestimmt haben – die Muttersprache, Kultur und Werte der alten Heimat, Gründe für Krieg und Fragen von Religion, um nur eine Reihe von Beispielen zu nennen. Die Frage, wohin ich gehe, lässt sich nur beantworten auf der Basis der Frage, woher ich komme.

Was Flüchtlinge dürfen

Letztendlich darf es auch bei Bildungsangeboten für Flüchtlinge nicht nur um Wissen und Können gehen, sondern um eine allseitige Bildung, wie sie in allen Länderverfassungen verankert ist. So heißt es beispielsweise in der Bayerischen Verfassung: „Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden.“ Dieser Grundsatz, Kompetenz und Haltung als Kern von Bildung zu betrachten, geht zurück bis in die Antike und kennzeichnet im Kern Humanität. Als Leitmotiv für die Integration von Flüchtlingen könnte er gerade im Hinblick auf die Frage nach den Bildungsangeboten eine wichtige Rahmung sein.

Keine separaten Flüchtlingsklassen

Bleibt zu guter Letzt die Frage nach den Strukturen: Welche Rahmenbedingungen benötigt erfolgreiche Integration aus bildungspolitischer Sicht? Auch hier dominiert eine Maßnahme den Diskurs: Flüchtlinge brauchen „Integrationsklassen“, „Sonderkurse“ und „Spezialprogramme“. So wichtig und richtig eine Separierung an dieser Stelle ist, um mögliche Defizite gezielt aufzubereiten, so kurz greifen sie auf längere Sicht: Die Macht der Peers ist einer der einflussreichsten Faktoren für Bildungsprozesse. Insofern wäre es wichtig, Flüchtlinge so früh wie möglich mit den Gleichaltrigen in Deutschland zusammenzubringen.

Wichtiger als alles bisher Gesagte ist folgender Punkt, der sich an einem schulischen Beispiel verdeutlichen lässt: Wie kommt es, dass in Parallelklassen ein und derselben Schule größte Leistungsunterschiede auftreten können, obschon die beiden Klassenlehrer genau nach demselben Lehrplan unterrichten und den gemeinsam entwickelten Unterrichtsstunden vorgehen?

Die Antwort hierauf gibt die Expertenforschung: Erfolg ist nicht nur eine Frage der Kompetenz, also des Wissens und des Könnens, hier der übereinstimmenden Rahmenbedingungen, Lerninhalte und Unterrichtsmethoden. Vielmehr ist Erfolg im Kern eine Frage der Haltung, also des Wollens und Wertens. Pädagogisches Denken und Handeln ist immer ein ethisches Handeln. Menschen haben folglich immer Gründe, warum sie etwas machen oder auch nicht machen. In der Frage der Integration von Flüchtlingen wird es demzufolge entscheidend sein, ob die Pädagogen nicht nur die nötigen Kompetenzen, sondern auch die erforderlichen Haltungen besitzen.

Bei der Qualifikation und Auswahl des Integrationspersonals kommt es also in besonderer Art und Weise darauf an, nicht nur danach zu fragen, ob entsprechendes Wissen und Können vorhanden ist, um die damit verbundene bildungspolitische Herausforderung zu bewältigen, sondern auch das hierfür grundlegende Wollen und Werten – beispielsweise die Überzeugung, dass es meine Pflicht als Pädagoge ist, allen Menschen Lebenshilfe anzubieten, es immer und immer wieder zu versuchen, auch wenn Scheitern zum Wesen des Pädagogischen gehört, Menschen jeglicher Kultur mit Würde zu begegnen und nicht nach ihrem Wert zu fragen, Schwierigkeiten und Probleme nicht als Hindernis, sondern aus Herausforderung zu sehen. Kompetenz und Haltung der Pädagogen sind somit die Garanten für eine erfolgreiche Bildungsangebote für Flüchtlinge.

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