Bildungspolitik Akademisierungswahn gefährdet berufliche Bildung

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Denkfehler der Akademisierungsapostel

Vor lauter Akademisierungs- und Bildungsaufstiegsenthusiasmus hatte man eine schlichte Tatsache vergessen. Wenn alle studieren, macht keiner mehr eine berufliche Ausbildung. Nun erinnert man sich wieder an das, was ausgerechnet ein Philosoph und Geistesmensch wie Nida-Rümelin ins Gedächtnis zurückrief: Dass das „duale System“ der nichtakademischen Ausbildung in Berufsschulen und Ausbildungsbetrieben der Garant dafür ist, dass die deutsche Wirtschaft über vergleichsweise besonders gut ausgebildete Arbeitskräfte verfügt. Deutsche Arbeitnehmer sind daher flexibler und leichter vermittelbar als Kollegen in anderen Ländern, deren Ausbildungswege entweder zu verschult oder zu stark auf den Ausbildungsbetrieb fixiert sind.

Das scheinbar stärkste Argument der Akademisierungsapostel zur Abwehr von Kritik ist der Verweis auf das geringere Arbeitslosigkeitsrisiko von Akademikern. Das ist allerdings ein Denkfehler, weil der Effekt des „Downgrading“ unbeachtet bleibt: Natürlich bekommen eher diejenigen eine Stelle, die höher qualifiziert scheinen. Akademiker machen also heute Jobs, die bisher Nichtakademiker innehatten. Aber dass ein akademisches Studium kompetentere Handwerker, Techniker und Kaufleute hervorbringt als das duale System, und damit die Volkswirtschaft insgesamt stärkt, kann man bezweifeln. Dass die weitgehende Akademisierung der Jugend keine positiven Beschäftigungseffekte hat, legt schon der Blick auf zahlreiche Länder mit noch höherer Akademikerquote als Deutschland nahe, zum Beispiel Italien und Spanien, die zugleich unter immenser Jugendarbeitslosigkeit leiden.

Deutschland exportiert sein Modell der dualen Ausbildung in Betrieben und Berufsschulen gern ins Ausland. Zuhause läuft aber noch längst nicht alles rund auf dem Lehrstellenmarkt.

Das duale System der beruflichen Ausbildung, diese große und historisch bewährte Stärke Deutschlands (und Österreichs und der Schweiz), droht nun durch den Akademisierungswahn der Politik unter die Räder zu kommen. Im Ausland bewundert und daher von Mexiko bis Vietnam als Modell für eigene Reformen angesehen, steht es in Deutschland vor existentiellen Problemen. Einerseits durch den Mangel an Ausbildungswilligen, die sich stattdessen in Uni-Hörsälen drängen. Andererseits aber auch durch die sträfliche Vernachlässigung des Berufsschulwesens selbst. Es gibt nicht nur zu wenige Lehrer, sondern auch kaum noch grundständige Studiengänge für Berufsschullehrer.

Die Bildungspolitik, das wird immer deutlicher, steht vor den Trümmern eines einst funktionierenden Systems, das sie selbst kaputtreformiert hat. Das deutsche Bildungssystem ist Musterbeispiel dafür, dass politische Reformen bisweilen nicht Lösungen, sondern Probleme verursachen. Dass diejenigen, die das Zerstörungswerk zu verantworten haben, auch am besten dafür geeignet sind, es wieder zu errichten, ist zu bezweifeln.

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