Bildungspolitik "Wir brauchen eine Lehrerreserve von zehn Prozent"

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"Es droht ein dauerhafter Qualitätsverlust"

Die meisten Bundesländer versuchen den Lehrermangel durch spezielle Rekrutierungsprogramme für Seiteneinsteiger zu dämpfen. Ist es für Schüler ein Vorteil, von einem Lehrer unterrichtet zu werden, der zuvor schon in einem anderen Beruf gearbeitet hat?
Ja, das hat auch Vorteile. In Bayern sind vor ein paar Jahren zum Beispiel Förster des höheren Dienstes als Lehrer an die Gymnasien gekommen. Die konnten dann auch, wenn sie mit den Kindern einen Unterrichtsgang machten, jedes Tiergeräusch und jede Pflanze identifizieren. Aber bislang waren das eben Einzelfälle. In Berlin haben wir jetzt jedoch unter den neu eingestellten Lehrern rund 40 Prozent Seiteneinsteiger. Ich höre da von drastischen Fällen, zum Beispiel von Personen, die zwar Abitur aber keinen Studienabschluss haben und jetzt an Grundschulen eingesetzt werden. Mir graut da etwas, weil man dort bei der pädagogischen Nachqualifikation beide Augen zudrückt. Innerhalb von zwei, drei Wochen wird denen dann bescheinigt, die pädagogischen Fähigkeiten erworben zu haben. Uns droht dann, wenn so etwas überhandnimmt, ein dauerhafter Qualitätsverlust. Wir wissen aus PISA-Begleitstudien, dass, wenn Unterricht fachfremd oder von nicht gut ausgebildeten Lehrern erteilt wird, in der Summe die Lernerfolge deutlich abnehmen. Ich befürchte für Länder wie Berlin und NRW, aber auch Sachsen, die jetzt verstärkt Seiteneinsteiger ohne pädagogische Ausbildung einstellen, einen weiteren Absturz bei künftigen Vergleichsstudien.

Striche zählen und Werte ablesen

In Wahlkämpfen werden stets mehr Investitionen in Bildung versprochen. Die Ausrede dafür, dass dann doch nicht so viel mehr investiert wird, ist dann oft das Kooperationsverbot. Die Länder haben zu wenig Geld und der Bund darf ihnen nicht richtig helfen. Steht der deutsche Bildungsföderalismus zu Recht in der Kritik?
Ich bin der Auffassung, dass es keine Abschaffung des Kooperationsverbots – das ist übrigens ein politischer Kampfbegriff – geben wird. Allenfalls ein paar weitere Lockerungen, wie es sie ja beispielsweise für finanzschwache Kommunen oder im Bereich der Hochschulen schon gab. Aber die letzte Verantwortung der Länder für die Bildung darf nicht entscheidend aufgeweicht werden. Diese ganze Diskussion ums Kooperationsverbot ist eine Alibidiskussion. Bestimmte Länder sagen: Wenn das Verbot aufgelöst wird, bekommen wir mehr Geld. Der Bund behauptet, wenn das Verbot gelockert würde, könnte er mehr geben. In Wirklichkeit lenken aber damit diese Länder auch davon ab, dass sie selbst gefordert wären, mehr Geld in die Bildung zu stecken. Es geht konkret nur um zwei Dinge. Erstens: Wie ermöglicht man dem Bund, Geld für die Sanierung maroder Schulgebäude zu geben? Zweitens: In welchem Umfang beteiligt sich der Bund an einem Pakt für die Digitalisierung der Schulen, wie ihn Bundesbildungsministerin Johanna Wanka in Aussicht stellt? Ich glaube, dass beide Fragen lösbar sind, ohne den Ländern die letzte Entscheidung über die Verwendung der Mittel zu nehmen, und ohne eine Grundsatzdebatte übers Kooperationsverbot zu führen.

Ich bin ein überzeugter Anhänger des Bildungsföderalismus. Das Bundesstaatsprinzip gehört übrigens zum nicht änderbaren Kernbestand unserer Verfassung. Und wir wissen, dass Bildung eine der letzten Kompetenzen der Bundesländer ist. In anderen Politikbereichen haben die Länder schon weitgehend Kompetenzen eingebüßt. Wenn der Bildungsföderalismus fällt, dann ist eine Kernforderung des Grundgesetzes nicht mehr erfüllt.

Die Bildungspolitik der letzten Jahrzehnte hat eine Tendenz zur Einheitsschule verfolgt, mit Gesamt- oder Gemeinschaftsschulen, die das herkömmliche, gegliederte Schulwesen abschaffen sollten. Wie wird das weitergehen?
Die Tendenz zur Einheitsschule, die die SPD und die Grünen oft verfolgten, hat ja große Rückschläge erlebt. Die rot-grüne Regierung in NRW zum Beispiel hat zwar zu einer Welle von Gesamtschulgründungen geführt, aber gleichzeitig gibt es eben mehr Schularten und nicht weniger. Von der Zwei- oder gar Eingliedrigkeit sind wir weiter entfernt als je. In Baden-Württemberg sind vor allem die Haupt- und Werkrealschulen den Weg zur Gemeinschaftsschule gegangen, die sowieso vom Schülerschwund betroffen waren. Den Eltern das als neue tolle Schulart zu verkaufen, wo ihre Kinder alle das Abitur kriegen, hat sich als haltlos herausgestellt. Viele Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg kriegen gar keine Oberstufe zustande. Das erinnert mich an den Hype um die Gesamtschule in den 1970er Jahren. Dem folgte nämlich dann eine Geschichte des Scheiterns, sowohl was die soziale Erziehung als auch was die Lernerfolge anging. Auch Länder wie Niedersachsen und Schleswig-Holstein, die den Weg der Gemeinschaftsschule gehen, werden noch solche Enttäuschungen erleben.

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