Bildungspolitik Schulen sind für die Schüler da, nicht für die Wirtschaft

In der Schulpolitik galt jahrelang eine von Ökonomen geprägte Theorie. Wir müssen endlich wieder die Bildung selbst zum Ziel erklären und Schulen in einen gesellschaftlichen Kontext stellen.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Unterricht: Kaugummi kauen fördert die Konzentration. Quelle: imago images

Das Schulsystem in Deutschland hat in den letzten 15 Jahren einen beispiellosen Umbau erlebt. Dies betraf zum einen die Ökonomisierung des Bildungsgedankens – worunter man die Ausrichtung der schulischen Arbeit auf „Employability“ (Beschäftigungsfähigkeit) versteht. Es betraf außerdem die Wiederbelebung  formaler Bildungsziele durch die Kompetenztheorie:  – so dass die Schule ihre Schüler nicht durch die methodische Auseinandersetzung mit bedeutsamen Inhalten der Kultur auf das Leben als mündige Mitglieder der Zivilgesellschaft vorbereitete, sondern durch Schulung kognitiver Teilleistungen.

Inzwischen zeigt sich in Ereignissen wie der Bankenkrise oder dem VW-Abgas-Skandal, dass jenes Paradigma, das am Ende des letzten Jahrtausends die Lösung aller bildungspolitischen Probleme versprach, selbst zum Problem geworden ist: Die Ökonomie kann nicht als Leitwissenschaft für den Umbau der Gesellschaft in Bereichen der Kultur oder gar der Bildung herhalten. Wir brauchen eine neue, nunmehr pädagogische Schultheorie, die den Bildungssektor auf Grund seines Zieles, nämlich der Bildung, gestaltet.

Nach den Akzentsetzungen der letzten Jahre besteht schulpolitisch, schulorganisatorisch und schulpädagogisch angesichts dieser Erfahrungen erheblicher Klärungsbedarf, den man knapp zusammenfassen kann als

- mehr Vielfalt in der Pädagogik des Unterrichts und des Schullebens – innovative Rahmung und Ergänzung jener Monokultur der Kompetenzorientierung

- Stärkung der Selbstverantwortung der Lehrenden

- Entformalisierung und Entbürokratisierung des schulischen Alltags

- Regulation nicht am Output sondern an der Idee der Bildung.

1. Die Neubewertung der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer gestalten

Neu sind zudem zwei Probleme. Zum einen nehmen kulturelle Konflikte zu, die mit Gewalt ausgetragen werden: Laut Bundeskriminalamt hat sich die Zahl der ausländerfeindlichen Anschläge 2015 gegenüber 2014 verfünffacht. Zum anderen pluralisiert sich die kulturelle Öffentlichkeit durch Zuzug von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen.

Es wäre fatal zu behaupten, alle neuen gesellschaftlichen Probleme in der Schule lösen zu können. Und es wäre ebenso fatal, wollte man den politischen Wahlkampf in die Schule tragen. Die Schule hat Bildung zur Aufgabe, nicht die politische Formierung der nachfolgenden Generation.

Aber die Schule kann etwas leisten, was zumindest verhindert, dass diese Probleme sich noch verschärfen. Schule kann durch inhaltsbezogene Sachlichkeit Ressentiments vorbeugen. Sie kann durch methodische Sorgfalt Polemik unterlaufen. Sie kann durch eine gegenstandorientierte Gesprächskultur Verhärtungen gar nicht erst entstehen lassen.

All das ist nicht messbar, aber folgenreich. Schule muss künftig bestimmt sein durch bildungsgerechte Inhalte, Methoden und Umgangsweisen.

Es wäre zu fragen, ob die Schule derzeit genug dafür tut, damit die eigene soziale und historische Situation von den Schülerinnen und Schülern überhaupt angemessen erkannt wird? Wir müssen also prüfen, ob die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer derzeit die Inhalte und die Bedeutung in der Schule haben, die ihnen in einer modernen Gesellschaft zukommen muss – damit diese diskursfähig bleibt und nicht in Gewalt umschlägt.

Wir müssen künftig…

Schulunterricht als kulturelles Identifikationsangebot

2. …den Schulunterricht als kulturelles Identifikationsangebot ernst nehmen!

Die Konzentration auf Textkompetenzen, die MINT-Fächer und die Sprachen war Anfang des Jahrtausends in der damaligen schulpolitischen Situation vielleicht naheliegend. Aber diese Konzentration hat die Unterbewertung der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer zur Folge gehabt. PISA berichtet nicht über die Qualität politischer Urteilsfähigkeit, gesellschaftlichen Engagements, oder kultureller Identifikation. Als habe all das keinen Wert für die Einschätzung eines Bildungssystems und für die Lebensqualität eines Landes.

Reicht der augenblickliche Geschichtsunterricht, um umfassend über jene Vergangenheit aufzuklären, die bei vielen offensichtlich nicht mehr präsent ist? Reicht der gegenwärtige Politikunterricht, um über den Sinn der diskursiven Demokratie aufzuklären, oder muss die Schule hier nicht künftig explizit ein Identifikationsangebot machen?

Man muss die Frage heute neu stellen: Was muss man wissen, um die Moderne verstehen und gestalten zu können? Wenn eine Gesellschaft attraktiv sein will, muss sie diese Attraktivität gegenüber der nachfolgenden Generation auch darstellen. Schule ist so einzurichten, dass die jetzigen Schüler als Staatsbürger später an diesen Kontroversen kenntnisreich und ausgestattet mich Sachwissen teilnehmen können. Angesichts der Herausforderungen durch Migration einerseits und durch das Erstarken geschichtsvergessener Strömungen andererseits muss Schule künftig ein kulturelles Identifikationsangebot geben.

3. Werten Lernen

Die Landesregierungen haben bundesweit die Vision eines inkludierenden Schulsystems. Dieser Gedanke, der anfangs auf Kinder mit körperlichen Beeinträchtigungen begrenzt schien, hat längst einen universellen Charakter erhalten: Inklusion meint daher zweitens auch soziale Inklusion. Und der Begriff bekommt heute eine dritte Bedeutung, wenn wir an die Weltlage und die Zunahme an Flüchtlingen denken: Die kulturelle Inklusion.

Wir werden auf lange Sicht in den Klassen aller Schulen eine bisher nicht gekannte Menge und Vielfalt an Lebensformen und Lebensentwürfen vorfinden.

Was junge Deutsche über unsere Geschichte zu wissen glauben

Angesichts einer solchen Herausforderung wäre es fahrlässig, wenn man die Kinder einfach sich selbst und ihren Herkunftsfamilien überließe. Kulturelle Missverständnisse kann man nicht einfach als lustige Folklore oder Freizeitkultur von bildungsfernen Schichten akzeptieren.

Was Schüler lernen müssen ist, mit der Wertvielfalt produktiv umzugehen. Sie müssen die Vielfalt auf das hin prüfen können, was zum Gemeinwohl beiträgt. Was eine Chance für die Zukunft bietet.

Gefordert wird von den Schülern, in unvorhersehbaren lebensweltlichen Herausforderungen jene Werte zu erkennen und zu wählen, die für ein gelungenes Zusammenleben sinnvoll sind. Kurz: Schule kann nicht dogmatisch zu Werten erziehen, sondern muss die Fähigkeit schulen, werten zu können.

5. Die Eltern als zu bildende Bildungshilfe verstehen

Kinder müssen auch lernen, mit der medialen Vielfalt umzugehen. Fernsehen und Internet holen alles ins Haus. Hier gibt es nichts, was es nicht gibt. Sicher ist nun, dass weder Facebook noch Google sich an eine pädagogische Leine nehmen lassen. Das sind Wirtschaftsunternehmen, keine technischen Hilfswerke. Wir brauchen daher eine Medienerziehung, die den einzelnen befähigt, mit dieser Vielfalt sinnvoll umzugehen. Medienerziehung ist auch Erziehung zum Werten.

Eine solche wertklärende Medienerziehung kann nicht ohne die Mitarbeit der Eltern, die ja die Medien zu Hause bereitstellen, gelingen. Die Zusammenarbeit mit den Eltern muss also gestärkt werden. Aber sie muss zugleich auch geregelt werden.

Weder sind Eltern schon von Natur aus die besseren Lehrer – und sollten kraft Anwälten in die Gestaltung von Schule ungebremst hineinreden können. Noch aber dürfen Eltern jene großen Unbekannten sein, die man besser außen vor lässt.

Die Hauptaufgabe der Schule ist und bleibt die Bildung. Da haben Lehrende, Schulleitung und Schulverwaltung die staatlich geprüfte Expertise. Die Aufgabe der Eltern ist die Gestaltung der Lebenswelt im Hinblick auf das Kindeswohl – und es kann sein, dass Schulen hier die Eltern in pädagogischen Fragen schulen sollten. Schulen müssen Eltern zumindest deutlich machen, was sie von ihnen fordern. Schulfähigkeit herzustellen ist die Aufgabe der Eltern – aber wo sollen sie es lernen, wenn sie selbst es nicht erfahren haben?

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%