Ernüchternder, weil noch wichtiger als eine Analyse aus bildungsökonomischer Sicht, ist ein Blick auf die Lebenskulturen von Flüchtlingen: Die Kultur des Glaubens, die Kultur der Familie, die Kultur der Arbeit und in diesem Sinn auch die Kultur der Bildung sind nicht miteinander vergleichbar. Während das christliche Abendland im Licht der Aufklärung steht und somit eine Bildungstradition im Zeichen der Humanität vorweist, zeichnet sich der Nahe Osten durch andere, weit weniger humanistische Traditionen aus.
Die Rolle der Religion, die Rolle der Frau, die Rolle der Arbeit und letztendlich auch die Rolle der Bildung sind völlig anders zu bewerten. Bildungsangebote für Flüchtlinge lassen sich folglich nicht nur aus bildungsökonomischer Sicht beleuchten, sondern erfordern eine tiefgreifende Analyse der Lebenskulturen, die das ganze Ausmaß der Herausforderung sichtbar werden lässt.
Über das Mittelmeer nach Europa: Zahlen zu Flüchtlingen
Trotz der lebensgefährlichen Fahrt über das Mittelmeer wagen viele Tausend Menschen die Flucht nach Europa. 219.000 Menschen flohen laut Flüchtlingshilfswerk UNHCR 2014 über das Mittelmeer nach Europa; 2015 waren es bis zum 20. April 35.000.
3.500 Menschen kamen 2014 bei ihrer Flucht ums Leben oder werden vermisst; im laufenden Jahr sind es bis zum 20. April 1600.
170.100 Flüchtlinge erreichten 2014 über das Meer Italien (Januar bis März 2015: mehr als 10.100); weitere 43.500 kamen nach Griechenland, 3.500 nach Spanien, 570 nach Malta und 340 nach Zypern.
66.700 Syrer registrierte die EU-Grenzschutzagentur Frontex 2014 bei einem illegalen Grenzübertritt auf dem Seeweg, 34.300 Menschen kamen aus Eritrea, 12.700 aus Afghanistan und 9.800 aus Mali.
191.000 Flüchtlinge stellten 2014 in der EU einen Asylantrag (dabei wird nicht unterschieden, auf welchem Weg die Flüchtlinge nach Europa kamen). Das sind EU-weit 1,2 Asylbewerber pro tausend Einwohner.
...beantragten 2014 in der EU Asyl (2013: 50.000).
202.700 Asylbewerber wurden 2014 in Deutschland registriert (32 Prozent aller Bewerber), 81.200 in Schweden (13 Prozent) 64.600 in Italien (10 Prozent), 62.800 in Frankreich (10 Prozent) und 42.800 in Ungarn (7 Prozent).
Um 143 Prozent stieg die Zahl der Asylbewerber im Vergleich zu 2013 in Italien, um 126 Prozent in Ungarn, um 60 Prozent in Deutschland und um 50 Prozent in Schweden.
Mit 8,4 Bewerbern pro tausend Einwohner nahm Schweden 2014 im Verhältnis zur Bevölkerung die meisten Flüchtlinge auf. Es folgten Ungarn (4,3), Österreich (3,3), Malta (3,2), Dänemark (2,6) und Deutschland (2,5).
600.000 bis eine Million Menschen warten nach Schätzungen der EU-Kommission allein in Libyen, um in den nächsten Monaten die Überfahrt nach Italien oder Malta zu wagen.
Dieser Blick auf die Flüchtlinge soll nicht, dies sei an dieser Stelle betont, als Argument gegen die Aufnahme von Flüchtlingen dienen. Dennoch soll er deutlich machen, dass politisch keine unrealistischen Erwartungen geweckt werden dürfen. Letztendlich ist auch aus bildungspolitischer Sicht eine noch nie da gewesene Herausforderung zu bewältigen. Am günstigsten für erfolgreiche Bildung erscheinen vor diesem Hintergrund folglich die Jüngsten unter den Flüchtlingen, sofern durch Krieg und Flucht die traumatischen Erlebnisse und die Brüche in familiären Beziehungen noch zu bewältigen sind.
Der Aspekt „Unter Unterstützung von wem?“ stellt die Frage nach dem Lehrer: Während in der Vergangenheit vielfach das Ehrenamt diese Aufgabe übernommen hat, versuchen Bildungspolitik und Bildungsorganisationen langsam aber sicher einen Masterplan für die Qualifizierung von Integrationspersonal zu erstellen.
So engagieren sich Ehrenamtler als Deutschlehrer für Flüchtlinge
Fast jeder zweite Deutsche, der sich ehrenamtlich für Flüchtlinge engagiert, gibt Sprachunterricht. Das zeigt eine Studie des Bundesamts für Migrationsforschung. Das Institut hat 70 Organisationen befragt und kam im April 2015 zu dem Ergebnis, dass die Zahl der ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer seit 2011 stark gestiegen ist.
In 23 Kursen à 17 Teilnehmern hat das Goethe-Institut zwischen September und Dezember dieses Jahres rund 400 Ehrenamtlichen in "Grundlagen der Spracharbeit Deutsch als Fremdsprache" ausgebildet. Für das kommende Jahr will das Institut bis zu 400 weitere Kurse anbieten, die Förderung ist aber noch nicht gesichert. Bei 15 Teilnehmern pro Kurs würde dies eine Förderung von insgesamt 6.000 Ehrenamtlichen bedeuten.
Die Ideen, die sich hier aber auftun, überzeugen lediglich aus finanzieller Sicht, weniger aber aus erziehungswissenschaftlicher: So gibt es beispielsweise den Vorschlag, frische Absolventen eines Lehramtsstudiums mit der Aufgabe zu betrauen, Flüchtlinge zu unterrichten. Für den Staatshaushalt mag dies durchaus überzeugen, weil durch befristete und kostengünstige Verträge Personallücken geschlossen werden können. Mit Blick auf die bildungspolitische Herausforderung ruft dieser Vorschlag aber mehr Bedenken hervor: Wie sollen Neulinge im Lehramt ohne zweite Phase die großen Aufgaben der Integration angehen können? Auf welche Erfahrungen, gerade im Umgang mit schwierigen Kindern und Jugendlichen, können Neulinge zurückgreifen? Welche didaktischen und pädagogischen Kompetenzen haben Neulinge im Hinblick auf Migration und Integration? Welche Voraussetzungen sind notwendig, um auf Traumatisierung infolge von Krieg und Flucht sinnvoll eingehen zu können?
Pensionierte Lehrer statt Lehramtsstudenten
All diese Fragen werden aktuell nur am Rand beantwortet. Für eine erfolgreiche Bildungsarbeit sind sie aber evident und entscheiden nicht nur darüber, ob Integration gelingt, sondern auch, ob die ersten Berufserfahrungen zur Stärkung der Pädagogenpersönlichkeit führen oder zu seiner Schwächung. Letzteres wäre vor dem Hintergrund einer bildungspolitischen Verantwortung und einer damit verbundenen Fürsorgepflicht des Dienstherren durchaus ein nicht zu unterschätzendes Problem.
Sinnvoller als frische Absolventen eines Lehramtsstudiums mit der Aufgabe zu betrauen, Flüchtlinge zu unterrichten, erscheint es, die ältere Generation zu gewinnen. Dies nicht nur deswegen, weil angesichts eines demographischen Wandels ein große Quantität vorhanden ist, sondern auch bezüglich einer Berufsprofessionalität eine große Kapazität aus qualitativer Sicht. Warum also nicht pensionierte Pädagogen für diese Aufgabe gewinnen und das Ehrenamt, das von diesen schon so häufig bedient wird, attraktiver machen?