Bildungspolitik "Wir brauchen eine Lehrerreserve von zehn Prozent"

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"Wenn alle das Abitur haben, hat keiner das Abitur."

In jüngeren Jahren ist die Zahl der Abiturienten deutlich angestiegen. Dadurch dass einerseits immer mehr Kinder aufs Gymnasium gingen und andererseits die anderen Schulformen zum großen Teil auch einen Weg zum Abitur wiesen. Im Ergebnis haben wir Abiturientenquoten von deutlich über 50 Prozent. Nun ist allerorten vom „Akademisierungswahn“ die Rede. Aber kann man diese Entwicklung noch umkehren?
Der gesellschaftliche und politische Mainstream, der sich „Abitur für Alle“ auf die Fahne geschrieben hatte, ist den Parolen der OECD auf den Leim gegangen. Mein Vorgänger Josef Kraus hat immer gesagt: Wenn alle das Abitur haben, hat keiner das Abitur. Wir sehen ja, dass in Ländern, wo fast jeder Abitur hat, eben gerade nicht Bildungsgerechtigkeit herrscht, weil dann andere Kriterien greifen. Zum Beispiel teure Auslandsaufenthalte, die nicht alle Eltern finanzieren können. Oder die verbale Darstellungsfähigkeit im Vorstellungsgespräch. Das ist mit Sicherheit zum Nachteil der jungen Leute aus bildungsfernen Schichten.

Laut jüngstem OECD-Bericht „Bildung auf einen Blick“ hat Deutschland im OECD-Vergleich die höchste Steigerung der Abiturientenquote: von rund 40 auf rund 60 Prozent zwischen 2005 und 2015. Da liegt natürlich der Verdacht mehr als nahe, dass diese massive Steigerung in so kurzer Zeit nicht mit einem entsprechenden Anstieg der Qualität einhergeht. Das Problem des Qualitätsverlusts gilt nicht nur fürs Abitur. In Berlin hat man, weil die Notenergebnisse der Mittleren Reife nicht passten, im folgenden Jahr Fragen auf Grundschulniveau in die Prüfungen aufgenommen.

Ich betrachte es als eine meiner Hauptaufgaben als Präsident des Lehrerverbandes, diese Frage der Qualität der Bildungsabschlüsse in den Mittelpunkt zu stellen. Wir fordern: keine weitere Absenkung des Niveaus und Durchsetzung einer echten Vergleichbarkeit. Damit unvereinbar ist die völlige Abschaffung von Eignungsvoraussetzungen fürs Gymnasium. Es gibt stattdessen zwei Möglichkeiten: Entweder, wie in Bayern, nimmt man den Notenschnitt der Grundschüler und ermöglicht zusätzlich eine zweite Chance durch den Probeunterricht. Oder man entscheidet nach einer Probezeit am Gymnasium. Auf beides zu verzichten – keine Empfehlung, keine Eignungsprüfung – und dann noch ab Klasse Fünf das Sitzenbleiben abzuschaffen, wie in Hamburg jetzt der Fall, hat mit dem Gymnasium nichts mehr zu tun. Dann bleiben nur noch die Türschilder eines gegliederten Schulsystems, hinter dem tatsächlich die Einheitsschule steht. Das muss verhindert werden.

Mit der Akademisierungstendenz ging eine beschleunigte Inflation der Noten einher, die Zeugnisse auch in den Augen von Arbeitgebern immer wertloser macht.
Das ist ein großes Problem. In Berlin hat sich die Zahl der 1,0-Abiturienten in wenigen Jahren vervierzehnfacht.

Wenn eine Währung entwertet ist, kommt es meist zu einer für viele Menschen schmerzhaften Währungsreform. Wie wird die Hyperinflation der Noten enden?
Das Problem ist vor allem die Vergleichbarkeit. Wenn die Abitur-Notendurchschnitte der Bundesländer in der Reihenfolge etwa den Ergebnissen der PISA-Studien entsprächen, dann könnte man ja noch sagen: Die Noten zeigen eben, dass Bayern und Sachsen tatsächlich besser sind. Aber die Länder mit den besten Noten sind eben nicht die mit den besten PISA-Ergebnissen. Was kann man tun? Das Ziel sollten nicht nur wesentlich gleiche Prüfungen in allen Ländern sein, sondern vor allem vergleichbare Korrekturbedingungen. Eine PISA-Begleituntersuchung hat vor Jahren schon  gezeigt, dass einer Vier in Bayern eine Drei in Baden-Württemberg und eine Zwei in Nordrhein-Westfalen entspricht.

von Marc Etzold, Konrad Fischer, Lin Freitag

Ein anderer Vorschlag von mir: Die Länder verpflichten sich, neben der Abiturnote auf dem Zeugnis auch anzugeben, wie der jeweilige Abiturient im Durchschnitt seines Bundeslands dasteht. Man könnte etwa eine Bandbreite von 0 bis 1000 nehmen, so dass ein Schüler mit 500 Punkten genau in der Mitte seines Abiturjahrganges stünde. Dann hätte der Durchschnittsschüler in Niedersachsen mit einem Notenschnitt von 2,6 genauso 500 Punkte wie der Durchschnittsschüler in Thüringen mit 2,1. So eine Regelung würde, vor allem wenn sie Grundlage für die Studienplatzvergabe wäre, die weitere Noteninflation ad absurdum führen. Aber das Qualitätsproblem wäre natürlich nicht gelöst.

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