Bildungspolitik Wie politische Interessen den Unterricht beeinflussen

Die Kompetenzorientierung im Bildungswesen macht es möglich, dass Pseudo-Fakten ungefiltert in Lehrmaterial aufgenommen werden – im politischen Interesse. Ein Beispiel ist die Grüne Gentechnik.

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Quelle: dpa

Der Begriff „alternative Fakten“ hat seit Donald Trumps Wahl zum US-Präsidenten eine beachtliche Karriere gemacht. Dabei ist das Phänomen alt. Überall, wo es gilt, eigene Meinungen anderen als wissenschaftlich fundiert zu präsentieren, sind derartige Entwicklungen auch längst nicht nur auf die Politik begrenzt. Im Gefolge der PISA-Studie und der darauf folgenden Bildungsstandards wurde im deutschen Bildungswesen die Kompetenzorientierung eingeführt. Seither bekommen Schüler selbst im Zentralabitur viele Seiten vorverdautes Material vorgelegt, das es im Rahmen der eingeforderten „Lesekompetenz“ zu sichten gilt. Die Folge ist, dass Lehrer nicht mehr die Oberhoheit über die im Unterricht zu lernenden Fachinhalte besitzen und Sachinformationen nicht mehr überprüft werden können - und anscheinend auch nicht sollen.

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Welche Ausmaße diese Art der „Informationsvermittlung“ bereits angenommen hat, zeigt ein Arbeitsblatt für den Unterricht, das noch bis Anfang 2016 jahrelang bei Klett, einem der führenden Schulbuchverlage, im Online-Angebot verfügbar war. Allem Anschein nach sind politische Meinungen aus Parteien oder von Organisationen in diese Materialien eingeflossen, die nicht dem aktuellen Wissensstand entsprechen.

Es geht um das Informationsblatt „Reis ist Leben“ zu dem in der Öffentlichkeit viel diskutierten „Golden Rice-Projekt“. Der goldene Reis – er hat im Gegensatz zum polierten Reis eine goldene Farbe – ist ein gentechnisch hergestellter Reis mit einem erhöhten Beta-Carotin-Gehalt. Er soll dazu beitragen, den Vitamin A-Mangel in Entwicklungsländern zu beheben, wo jährlich laut Weltgesundheitsorganisation zwischen 250.000 und 500.000 Kinder erblinden. Rund die Hälfte von ihnen sterben an den Folgeerkrankungen innerhalb eines Jahres. Das „Golden Rice-Projekt“ ist damit eines der Vorzeigeprojekte der grünen Gentechnik schlechthin. Einer der prominenten Geldgeber ist die Bill und Melinda Gates Stiftung in den USA.

Striche zählen und Werte ablesen

Für die Gegner grüner Gentechnologie gilt der Anbau dieser Reisart als Trojanisches Pferd und muss dementsprechend bekämpft werden. Die Kritiker haben auch gute Argumente. Sie bezweifeln die angegebene Wirksamkeit, weisen auf fehlende wissenschaftliche Untersuchungen in der Anwendung hin und schlagen stattdessen eine allerdings viel teurere Nahrungsergänzung mit Beta-Carotin Tabletten vor. Gleichzeitig wird auf die Risiken grüner transgener Techniken hingewiesen, die zu unkontrollierbaren und nicht umkehrbaren Veränderungen natürlicher Reissorten führen könnten.

Das Für und Wider wurde bereits 2008 in dem einigermaßen wertfreien Artikel „Die gelbe Revolution“ im Spiegel online ausführlich erörtert. Auf dieser Diskussion basierte jenes Arbeitsblatt, das bis vor kurzem von einem der führenden Schulbuchverlage als zusätzliches Hilfsmaterial für unterrichtliche Zwecke online zur Verfügung gestellt wurde.

„Gefahr Gentechnik“

In der Einleitung zum ersten Teil des Arbeitsblattes erhält der Leser einen Einblick in die Bedeutung des Reisanbaus, der in den Entwicklungsländern für fast eine Milliarde Menschen die entscheidende Nahrungsgrundlage darstellt. Als Probleme des Reisanbaus werden Erosion, sinkende Erträge, Verringerung der Biodiversität, Verarmung der Böden, Arbeitslosigkeit und Umweltverschmutzung angeführt. In einem längeren Text erhält der Leser jetzt Hintergrundinformationen: Fünfundneunzig Prozent der Produktion bleiben in den Erzeugerländern im asiatischen Raum. Wenn es nicht gelinge, die Reisproduktion auf der vorhandenen Fläche erheblich zu steigern, drohen Hungersnöte bei ständig wachsenden Bevölkerungszahlen. Eine Optimierung der Anbaumethoden sei zwingend erforderlich. Zum Schluss wird darauf verwiesen, dass insbesondere die Gentechnik und die Patentierung die Erträge und die Verteilung erheblich beeinflussen werden.

Waren diese Informationen bisher relativ wertfrei geäußert worden, ändert sich dies im nächsten Abschnitt schon durch die Überschrift „Gefahr Gentechnik“ grundlegend. Dabei geht es zuerst einmal grundsätzlich darum, gegen die Grüne Gentechnik Stellung zu beziehen. Sie drohe die biologische Vielfalt Afrikas und eine nachhaltige Landwirtschaft zu zerstören, sie untergrabe die Möglichkeit der afrikanischen Bevölkerung, sich selbst zu ernähren. Als Beweis für den asiatischen Raum wird dann das Beispiel des „Golden Reis-Projekts“ herangezogen. Lehrern und Schülern wird mit folgender Aussage die Unsinnigkeit des Projekts anhand konkreter Zahlen vor Augen geführt. „Eine Frau müsste 3,75 Kilo Reis pro Tag essen – und da sich diese Zahl auf das Trockengewicht bezieht, ergibt das rund 9 Kilo gekochten Reis.“

Aber: Diese Aussage ist nachweislich falsch. Nach anfänglichen geringen Steigerungen des ß-Carotin Gehalts bis zur Jahrtausendwende konnte die Konzentration an diesem Provitamin erheblich gesteigert werden. Laut dem Golden Rice Humanitarian Board genügt eine Handvoll des Goldenen Reises (ca. 50 Gramm), um sechzig Prozent des Tagesbedarfs eines Kindes an Vitamin A zu decken. Diese Zahlen sind längst als wissenschaftlich unstrittig anerkannt. Mittlerweile sind die gentechnischen Experimente zur Erhöhung auch anderer Vitamine und Mineralstoffe, wie beispielsweise Eisen, weiter entwickelt worden.

von Marc Etzold, Konrad Fischer, Lin Freitag

In dem weiteren Abschnitt Gefahr Patentierung heißt es: „Sollte nun gentechnisch veränderter Reis angebaut werden, so greifen weltweit wirksame Patente, die es den Bauern untersagen, daraus selber Saatgut heranzuziehen.“ Diese Aussage ist ebenfalls falsch. Dabei ist bemerkenswert, dass als Quelle im Arbeitsblatt ausschließlich ein Selbstzitat von Greenpeace angegeben ist. Richtig ist, dass das „Golden Rice“-Konsortium den Bauern das Saatgut kostenlos zur Verfügung stellt. Bis zu einem Erntewert von 10.000 Dollar pro Jahr werden keine Patentgebühren erhoben. Die Bauern können gebührenfrei nachzüchten und die „Golden Rice“-Eigenschaften auch in lokale Sorten einkreuzen. Man muss nicht einmal die Originalliteratur bemühen: Selbst ein Blick in Wikipedia reicht aus, um die alternativen Fakten des Infoblatts zu durchschauen. Dort findet man zudem eine lange Liste mit der wissenschaftlichen Originalliteratur.

Argumentation mit überholten Zahlen

Der Schulbuchverlag war sichtlich irritiert und, wie es schien, peinlich berührt, als er auf das Infoblatt aufmerksam gemacht wurde. Innerhalb von zwei Tagen war es von der Webseite verschwunden und kurze Zeit später durch ein deutlich besseres und neutraleres ersetzt, das jetzt ebenfalls die korrekten Daten bestätigt. Ein Screenshot des alten Arbeitsblattes befindet sich für jeden interessierten Leser zur Überprüfung des dargestellten Sachverhaltes auf der Startseite der Gesellschaft für Didaktik der Biowissenschaften.

Ganz offensichtlich war es politischen Interessenvertretern gelungen, die Qualitätskontrolle des Verlags zu unterlaufen. Und so verwundert es dann auch nicht, dass auf einer Podiumsdiskussion in Kassel ein Europaabgeordneter einer bestimmten Partei seinem Publikum unter anderem erklärte, dass ein Mensch rund fünf Kilogramm Goldenen Reis essen muss, um nur annähernd die erforderliche Menge an Vitamin A aufzunehmen. Zufall? Kann man nicht ausschließen – die Parallelen in der Argumentation sind jedoch frappierend. Es drängt sich ganz offensichtlich der Verdacht auf, dass hier mit längst überholten falschen Zahlen argumentiert wurde, um die eigene Kritik an der Grünen Gentechnik dem Publikum mit aktuellen Zahlen aus der Wissenschaft als alternativlos vorzustellen.

Gerade in der heutigen Zeit der Zahlen- und Studiengläubigkeit ist bei der Bewertung vorgestellter Ziffern und Daten äußerste Vorsicht geboten. Die gleiche Kritik ist bei Auftragsstudien angebracht, die mit dem Totschlagargument anscheinend unwiderlegbarer Daten argumentieren. Daten, die oft nicht überprüfbar sind und nicht selten dem gesunden Menschenverstand widersprechen. Eine erbetene Stellungnahme auf Anfrage eines Kasseler Kollegen aus der Genetik bezüglich der benutzten Daten wollte der Abgeordnete dazu nicht abgeben, man sei eben unterschiedlicher Meinung.

Anwendungen in der Gentechnik müssen selbstverständlich in der Schule diskutiert werden, auch das Golden Rice Projekt, aber nicht auf der Basis von Meinungen, sondern auf der von Fakten. Nur wenn das zugrundeliegende wertfreie Fachwissen zentraler Unterrichtsgegenstand ist, kann darauf eine selbstständige Bewertung der Sachlage entwickelt werden, sonst droht man zum Spielball unterschiedlicher Lobbygruppen zu werden.

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