In Wirtschaftsfragen haben die Grünen längst zur Realpolitik gefunden. Warum sind sie, wenn es um Einwanderung geht, eine Partei von Gesinnungsfundamentalisten?
Als fundamentalistisch sehe ich unsere Partei nun wirklich nicht. Aber gesinnungsethisch, ja. Jede Partei hat eine Gesinnungskernzone, über die man nicht diskutieren kann. Das ist auch in Ordnung, denn sonst ist man in der Politik nicht standhaft. In der Linkspartei kann man nicht über den Kapitalismus diskutieren. In der FDP kann man nicht die Marktwirtschaft in Frage stellen. In der CDU könnte das mal die christliche Kultur gewesen sein. Ich finde es gut, dass meine Partei diesen gesinnungsethischen Kern im Bereich der Menschenrechte, des Minderheitenschutzes, der Pluralität und Toleranz in der offenen Gesellschaft hat. So eine Partei braucht Deutschland. Die Schwierigkeit ist nur, dass es zwischen individuellen Auffassungen und dem praktischen Handeln in Regierungsverantwortung eine Brücke geben muss. Und die fehlt manchmal. Ich mache mir Sorgen, wenn nicht zugelassen wird, über reale Sorgen und Probleme zu reden, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Damit gerate ich in Konflikt – nicht mit den Überzeugungen, denn die teile ich.
In den vergangenen Tagen sorgte der grausame Mord einer jungen Frau durch einen Flüchtling in Freiburg für Aufregung. Dazu kam, dass die Tagesschau darüber nicht berichtete. Warum sind nicht nur die Grünen, sondern die gesamte deutsche Öffentlichkeit immer noch so verdruckst in ihrer Wahrnehmung und Diskussion der Probleme durch die Einwanderung?
Dieses Verbrechen ist so furchtbar, dass es schwer fällt, darüber zu sprechen. Und wer darüber spricht, kann das kaum unbefangen tun. Man fragt sich: Welche Meta-Botschaft transportiere ich? Man kann kaum noch offen darüber sprechen, weil man Angst hat, missverstanden zu werden. Diese Angst, den falschen Empfängern Auftrieb zu geben, steuert die Kommunikation. Das öffnet der AfD eine Lücke, in die sie mit unmissverständlichen Äußerungen hineinstoßen kann.
Ich finde es durchaus richtig, zu überlegen, was man mit seinen Aussagen bewirkt. Aber Äußerungen wie: „Es spielt überhaupt keine Rolle, ob der Mörder ein Deutscher oder Flüchtling war“, die sind zugleich richtig und falsch. Klar, der Mord bleibt ein Mord. Aber für die allermeisten Menschen macht es eben doch einen Unterschied, ob ein Rot-Kreuz-Konvoi beschossen wird oder Soldaten im Kampf. In beiden Fällen sterben Menschen. Aber es ist eben ein Unterschied, ob eine helfende Hand abgehackt wird, oder es Verluste in Kriegshandlungen gibt. Im konkreten Fall mag es für manche Menschen keinen Unterschied machen, dass der Mörder ein Flüchtling war, aber für die meisten schon.
Für mich ist es nicht die entscheidende Frage, ob das wirklich einen Unterschied macht, weil das jeder einzelne Mensch für sich bewertet. Entscheidend ist: Darf es einen Unterschied machen? Ich meine: ja. Man darf sich darüber empören, dass ausgerechnet ein Flüchtling, der bei uns Hilfe erhält, ein solches Verbrechen begeht. Und dafür muss man sich nicht Rassismus vorwerfen lassen. Danach sollte man sich aber wieder darauf besinnen, dass 99,999 Prozent aller Flüchtlinge keine Sexualverbrecher sind.
Der Freiburger Mord, die Ereignisse der Silvesternacht und manche andere Nachrichten geben vielen Menschen den Eindruck, dass das Leben in Deutschland durch die Einwanderung unsicherer werde. Bekommen Sie diese Stimmung auch im durch und durch bildungsbürgerlichen Tübingen mit?
In Tübingen gab es bisher glücklicherweise keine gravierenden Ereignisse dieser Art. Aber natürlich sind viele Menschen verunsichert. Deswegen kommt es darauf an, richtig zu reagieren. Die öffentliche Diskussion wird von falschen Reaktionen dominiert. Die einen sagen: Wir haben es ja immer gesagt, die Flüchtlinge bringen Kriminalität. Die anderen sagen: Das ist nur ein Einzelfall, die Flüchtlinge sind auf keinen Fall bedrohlich. Das sind vorgefertigte, reflexartige Antworten. Man nimmt sich nicht die Zeit, nach Hinweisen zu suchen, ob Flüchtlinge wirklich überproportional kriminell sind. Für die Diskussion wäre es besser, sich ganz genau soziologisch und kriminalistisch um diese Frage zu kümmern. Leider kann man das aber nicht richtig tun, weil die Kriminalstatistik so lückenhaft ist. Das ist für die Debatte sehr gefährlich, denn es lässt für Spekulationen und tendenziöse Interpretationen viel Raum.
Ihr verstorbener Vater Helmut Palmer war in Baden-Württemberg als „Remstal-Rebell“ berühmt. Ihr Verwandter Christoph Palmer hat seine Politiker-Karriere mit einer öffentlichen Ohrfeige beendet. Liegt das Rebellische in Ihrer Familie?
Da ist was dran. Mein Vater saß für seine Meinung 18 Monate im Gefängnis. Wenn man so eine Familiengeschichte hat, dann ist man nicht so leicht durch Beschimpfungen und verbale Repressalien zu erschrecken. Ich stehe für meine Meinungen auch da ein, wo es anderen vielleicht zu sehr weh tut. Ich weiß, dass es schlimmer kommen kann. Das bisschen Streit, das halt ich aus.
Die Idee, die Grünen zu verlassen, kam ihnen nie?
Das wünschen sich vielleicht ein paar linke Dogmatiker in meiner Partei. Aber den Gefallen tue ich ihnen nicht. Ich finde es grundsätzlich falsch, sofort auszutreten, wenn man mal in einer Frage eine Minderheitsmeinung in seiner Partei vertritt. In 90 Prozent der Themen bin ich in voller Übereinstimmung mit der Parteilinie. Ich bin überzeugter Ökologe. Für mich geht der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen allen anderen Politikbereichen vor. Außerdem hat meine Partei in den vergangenen Jahrzehnten schon viele Wandlungen durchgemacht. Vor allem in Baden-Württemberg sind wir sehr pragmatisch. Das Regierungshandeln unter Ministerpräsident Winfried Kretschmann entspricht dem, was ich erwarte, auch wenn es um Flüchtlinge geht.