Boris Palmer "Gegen Sprachzensur wehre ich mich vehement"

Tübingens grüner Oberbürgermeister Boris Palmer eckte mit flüchtlingspolitischen Aussagen in der eigenen Partei an. Er fordert eine sachliche Diskussion über Ausländerkriminalität und warnt vor der Schere in den Köpfen durch mediale Drangsalierung.

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Grünen-Politiker und Tübingens OB Boris Palmer im Interview. Quelle: dpa Picture-Alliance

WirtschaftsWoche: Sie gehören zu den medial besonders aktiven und nicht gerade stromlinienförmigen Grünen-Politikern und Oberbürgermeistern der Republik. Vor wenigen Tagen wurden Sie bei Facebook gesperrt. Können Sie erklären, was da los war?
Boris Palmer: Ich kann das nicht eindeutig erklären. Die Politik-Abteilung der Facebook-Zentrale Deutschland hat mir keinen Grund für die Sperrung genannt. Das ist an sich schon ein Problem. Wenn mein Auto abgeschleppt wird, habe ich schließlich auch das Recht zu erfahren, woran es lag. Aber bei Facebook erfährt man nichts und das wird der Bedeutung des Unternehmens nicht gerecht. Gelöscht wurde ein Betrag, in dem das Wort „Mohrenkopf“ vorkam. Ich vermute: Jemand hat das Wort gelesen, sich auf den Antirassismus-Paragrafen in den Geschäftsbedingungen bezogen und meine Sperrung verlangt – und Facebook ist dem nachgekommen. Das ist doppelt bemerkenswert: Erstens dass es Leute gibt, die meinen, man müsse einen Oberbürgermeister an einer Meinungsäußerung hindern, weil er ein ihnen unliebsames Wort gebraucht, und zweitens dass Facebook einen solchen absurden Vorwurf ernst nimmt. Genau geschrieben habe ich: „Was wurde aus dem Mohrenkopf?“ Und dann ein Bild vom Tübinger Schokoladenmarkt mit einem Plakat über die Herstellung des „Chocolino“, der vor vier Jahren für Aufregung sorgte, als er noch „Tübinger Mohrenköpfle“ hieß.

Also müssen wir befürchten, dass dieses Interview auch bei Facebook gesperrt wird, weil das Wort „Mohrenkopf“ darin vorkommt?
Vermutlich hat die WiWo nicht so viele sich selbst als antirassistisch definierende Feinde wie ich. Aber ihre Frage weist auf das Problem hin: Wenn man anfängt, bei jedem Wort zu überlegen, ob man deswegen gesperrt wird, dann entsteht eine Schere im Kopf, die an Orwellsche Sprachzensur erinnert. Und dagegen wehre ich mich vehement.

Verhängnisvolle Posts, die den Job kosten können
Ein Auktionator bei einer Kunstauktion mit dem Hammer den Zuschlag. Quelle: dpa
Wer seinen Ausbilder als Menschenschinder und Ausbeuter bezeichnet, fliegt Quelle: Fotolia
Hamburger Band Deichkind Quelle: dpa
„Ab zum Arzt und dann Koffer packen“Urlaub auf Rezept? Eine Auszubildende aus Nordrhein-Westfalen schrieb bei Facebook: "Ab zum Arzt und dann Koffer packen." Das las der Ausbilder und fand es gar nicht komisch. Er kündigte der Auszubildenden fristlos. Sie zog vor Gericht. Das Argument der Verteidigung lautete übrigens, dass die Auszubildende wegen ihrer Hautkrankheit Neurodermitis Urlaub bräuchte. Spätestens als die aber sagte: "Ich hätte eh zum 31. Mai gekündigt" war klar, woher der Wind weht. Beide Parteien einigten sich auf eine Zahlung von 150 Euro ausstehenden Lohn und ein gutes Zeugnis. Quelle: dapd
Facebook-Nutzung trotz Kopfschmerzen Quelle: Fotolia
"Speckrollen" und "Klugscheißer" Quelle: AP
Eine Lehrerin bezeichnete sich als "die Aufseherin von künftigen Kriminellen" Quelle: dpa

Durch solche Ereignisse könnten sich die Verschwörungstheoretiker in ihren Vorurteilen bestätigt fühlen.
Facebook ist eine Privatfirma und kann frei entscheiden, dass sie Bilder mit nackten Brüsten sperrt und Brüste mit Hakenkreuzen über den Nippeln durchgehen lässt. Das sind Skurrilitäten eines amerikanischen Konzerns. Für die deutsche Debatte ist entscheidend, dass damit etwas umgesetzt wird, was hier nur eine radikale Minderheit fordert: nämlich dass man Leuten verbieten müsse, Wörter zu gebrauchen, die angeblich rassistisch oder sonstwie nicht „pc“ sind. Ich glaube, dass das nur schaden kann. Das nutzt den Gruppen, die man schützen will, überhaupt nichts, sondern projiziert Ärger auf sie, weil man sie indirekt für diese Verbote in Haftung nimmt. Die Leute lassen sich nicht verbieten, „Mohrenkopf“ zu sagen, wenn sie selbst dabei nicht die geringste rassistische Intention empfinden. Und das gilt für die allermeisten Menschen.

Ich halte es aber schon für richtig, sich selbst zu hinterfragen. Ich würde „Mohrenkopf“ nicht mehr verwenden – und das auch anderen empfehlen. Ich war in meiner Stadt bei einer Veranstaltung mit 200 sehr betroffenen Menschen eingeladen, viele von ihnen mit schwarzer Hautfarbe. Die erzählten, wie ihre Kinder als „Mohrenkopf“ gehänselt werden. Das hat mich beeindruckt und überzeugt. Aber ich will, dass wir darüber vernünftig reden ohne Drangsalieren und Diffamieren von Menschen, die das Wort unbefangen nutzen.

Mit öffentlicher Empörung über Ihre Aussagen haben Sie schon einige Erfahrung gemacht, als Sie im Herbst 2015 als einer der wenigen Politiker in etablierten Parteien an der Parole „Wir schaffen das“ Zweifel anmeldeten. Gab es auch Zustimmung?
Ja, sicher. Von Anfang an. Ich bekam mehrere tausend E-Mails, die übergroße Mehrheit zustimmend – darunter auch Zustimmung von rechts außen, die ich gar nicht gebrauchen kann. Aber das waren wenige. Bemerkenswert waren viele unterstützende Rückmeldungen von Kommunalpolitikern der Grünen. Auch von Politikern anderer etablierter Parteien bekam ich Unterstützung. Aber: immer nicht öffentlich. Das ist das Entscheidende: Ich war nicht der einzige, der so dachte und redete, aber ich war fast der einzige, der sich damit auch öffentlich zitieren ließ.

Die Diskrepanz zwischen den Berufspolitikern und der Basis ist besonders bei der CDU offensichtlich. Bei den Grünen scheint sie weniger deutlich zu sein.
Ich glaube, bei der CDU ist eine Mehrheit der Mitglieder im Widerspruch zur Asylpolitik der Kanzlerin. Bei den Grünen ist das nur eine kleine Minderheit. Und deren Motive und Lösungsansätze sind auch andere. Die Zustimmung, die ich aus meiner Partei erhielt, bezog sich auf meine Beschreibung der Überforderung der Kommunen und der Probleme durch die Zusammensetzung der Flüchtlinge hinsichtlich Alter, Herkunft und Geschlecht. Bei der CDU gibt es sicher sehr viele, die einfach nicht so viele Ausländer haben wollen.

Die Angst, den falschen Empfängern Auftrieb zu geben

In Wirtschaftsfragen haben die Grünen längst zur Realpolitik gefunden. Warum sind sie, wenn es um Einwanderung geht, eine Partei von Gesinnungsfundamentalisten?
Als fundamentalistisch sehe ich unsere Partei nun wirklich nicht. Aber gesinnungsethisch, ja. Jede Partei hat eine Gesinnungskernzone, über die man nicht diskutieren kann. Das ist auch in Ordnung, denn sonst ist man in der Politik nicht standhaft. In der Linkspartei kann man nicht über den Kapitalismus diskutieren. In der FDP kann man nicht die Marktwirtschaft in Frage stellen. In der CDU könnte das mal die christliche Kultur gewesen sein. Ich finde es gut, dass meine Partei diesen gesinnungsethischen Kern im Bereich der Menschenrechte, des Minderheitenschutzes, der Pluralität und Toleranz in der offenen Gesellschaft hat. So eine Partei braucht Deutschland. Die Schwierigkeit ist nur, dass es zwischen individuellen Auffassungen und dem praktischen Handeln in Regierungsverantwortung eine Brücke geben muss. Und die fehlt manchmal. Ich mache mir Sorgen, wenn nicht zugelassen wird, über reale Sorgen und Probleme zu reden, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Damit gerate ich in Konflikt – nicht mit den Überzeugungen, denn die teile ich.

In den vergangenen Tagen sorgte der grausame Mord einer jungen Frau durch einen Flüchtling in Freiburg für Aufregung. Dazu kam, dass die Tagesschau darüber nicht berichtete. Warum sind nicht nur die Grünen, sondern die gesamte deutsche Öffentlichkeit immer noch so verdruckst in ihrer Wahrnehmung und Diskussion der Probleme durch die Einwanderung?
Dieses Verbrechen ist so furchtbar, dass es schwer fällt, darüber zu sprechen. Und wer darüber spricht, kann das kaum unbefangen tun. Man fragt sich: Welche Meta-Botschaft transportiere ich? Man kann kaum noch offen darüber sprechen, weil man Angst hat, missverstanden zu werden. Diese Angst, den falschen Empfängern Auftrieb zu geben, steuert die Kommunikation. Das öffnet der AfD eine Lücke, in die sie mit unmissverständlichen Äußerungen hineinstoßen kann.
Ich finde es durchaus richtig, zu überlegen, was man mit seinen Aussagen bewirkt. Aber Äußerungen wie: „Es spielt überhaupt keine Rolle, ob der Mörder ein Deutscher oder Flüchtling war“, die sind zugleich richtig und falsch. Klar, der Mord bleibt ein Mord. Aber für die allermeisten Menschen macht es eben doch einen Unterschied, ob ein Rot-Kreuz-Konvoi beschossen wird oder Soldaten im Kampf. In beiden Fällen sterben Menschen. Aber es ist eben ein Unterschied, ob eine helfende Hand abgehackt wird, oder es Verluste in Kriegshandlungen gibt. Im konkreten Fall mag es für manche Menschen keinen Unterschied machen, dass der Mörder ein Flüchtling war, aber für die meisten schon.

"Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch"
Begleitet von rund 200 Sympathisanten zogen die Grünen vor 30 Jahren in den Bundestag ein. Unter ihnen waren die Abgeordneten Gert Bastian, Petra Kelly, Otto Schily und Marieluise Beck-Oberdorf (von links nach rechts). Der Bundestag war völlig unvorbereitet auf diese neue Art der Politik. Quelle: dpa
Zwei Tage nach dem 5,6-Prozent-Erfolg der Grünen bei der Wahl am 6. März 1983 kamen die 27 Abgeordneten erstmals zu einer Sitzung zusammen. Der Konferenzsaal des Abgeordnetenhauses am Bonner Tulpenfeld war viel zu eng. Auch Basisvertreter und Nachrücker waren dabei, nach zwei Jahren sollten die frisch gewählten Abgeordneten wieder aus dem Parlament hinausrotieren. Quelle: dpa
Trotz Ermahnungen der politisch Etablierten zu ordnungsgemäßer Kleidung dominierten Strickpullis und Zauselhaare. Nur eine weibliche Abgeordnete erschien mit Anzug und Krawatte. Einige brachten Strickzeug mit in den Bundestag, andere erschienen mit Blumentöpfen zur ersten Sitzung. Quelle: dpa
Auch Blumen gießen gehörte in den Anfangsjahren dazu – hier streng beobachtet von Otto Schily (rechts) und der amüsierten SPD-Politikerin Ingrid Matthäus-Maier. Über den fehlenden Platz für die Neuparlamentarier verhandelten die Grünen-Fraktionsvorständler Petra Kelly und Otto Schily sowie Fraktionsgeschäftsführer Joschka Fischer mit Bundestagspräsident Richard Stücklen. Die alteingesessenen Parteien zeigten sich skeptisch gegenüber den Neulingen. Helmut Kohl hielt die Grünen nur für eine zwischenzeitliche Episode. „Zwei Jahre gebe ich denen, dann gehen sie Mann für Mann zur SPD über“, sagte er. Quelle: dpa
Doch die Grünen blieben. Schon früh setzten die Grünen themenpolitische Akzente, mit der sie die ganze Republik umkrempelten. Sie sprachen sich nicht nur früh gegen Atomkraft und für den Umweltschutz aus, sondern forderten damals schon gleiche Rechte für Homosexuelle, eine multikulturelle Gesellschaft und die Abschaffung der Wehrpflicht ein – alles Themen, die bis heute auf der Agenda stehen. Waltraud Schoppe (Mitte) sorgte mit ihrer ersten Rede gar für Entsetzen. „Wir fordern Sie alle auf, den alltäglichen Sexismus in diesem Parlament einzustellen.“ Ein Satz, der ob der Sexismus-Debatte auch 30 Jahre später noch aktuell ist. Quelle: dpa
Zu den ersten Abgeordneten zählten auch Petra Kelly (links, mit Blumen) und Marieluise Beck-Oberdorf (rechts). „Auch wenn wir uns antiautoritär gaben, so hatte doch dieser altehrwürdige Plenarsaal etwas Respekt einflößendes“, sagte Beck-Oberdorf in einem Interview mit tageschau.de. Trotzdem habe es das Gefühl gegeben, man sei keine „normale“ Partei. Quelle: dpa
Grünen-Gründungsmitglied Kelly, hier mit dem damaligen SPD-Vorsitzenden Willy Brandt, gehörte zu den Ikonen der grünen Anfangsjahre. Sie prägte zum Beispiel den Ausdruck der „Anti-Parteien-Partei“ und der „Instandbesetzung des Bundestages“. Sie setzte sich besonders für Frieden und Menschenrechte ein. Noch mehr Beachtung als ihr Tun fand ihr Tod. Ihr Lebensgefährte und Mitstreiter Gert Bastian erschoss sie 1992 im Schlaf – und tötete sich selbst ebenfalls. Quelle: dpa

Für mich ist es nicht die entscheidende Frage, ob das wirklich einen Unterschied macht, weil das jeder einzelne Mensch für sich bewertet. Entscheidend ist: Darf es einen Unterschied machen? Ich meine: ja. Man darf sich darüber empören, dass ausgerechnet ein Flüchtling, der bei uns Hilfe erhält, ein solches Verbrechen begeht. Und dafür muss man sich nicht Rassismus vorwerfen lassen. Danach sollte man sich aber wieder darauf besinnen, dass 99,999 Prozent aller Flüchtlinge keine Sexualverbrecher sind. 

Der Freiburger Mord, die Ereignisse der Silvesternacht und manche andere Nachrichten geben vielen Menschen den Eindruck, dass das Leben in Deutschland durch die Einwanderung unsicherer werde. Bekommen Sie diese Stimmung auch im durch und durch bildungsbürgerlichen Tübingen mit?
In Tübingen gab es bisher glücklicherweise keine gravierenden Ereignisse dieser Art. Aber natürlich sind viele Menschen verunsichert. Deswegen kommt es darauf an, richtig zu reagieren. Die öffentliche Diskussion wird von falschen Reaktionen dominiert. Die einen sagen: Wir haben es ja immer gesagt, die Flüchtlinge bringen Kriminalität. Die anderen sagen: Das ist nur ein Einzelfall, die Flüchtlinge sind auf keinen Fall bedrohlich. Das sind vorgefertigte, reflexartige Antworten. Man nimmt sich nicht die Zeit, nach Hinweisen zu suchen, ob Flüchtlinge wirklich überproportional kriminell sind. Für die Diskussion wäre es besser, sich ganz genau soziologisch und kriminalistisch um diese Frage zu kümmern. Leider kann man das aber nicht richtig tun, weil die Kriminalstatistik so lückenhaft ist. Das ist für die Debatte sehr gefährlich, denn es lässt für Spekulationen und tendenziöse Interpretationen viel Raum.  

Ihr verstorbener Vater Helmut Palmer war in Baden-Württemberg als „Remstal-Rebell“ berühmt. Ihr Verwandter Christoph Palmer hat seine Politiker-Karriere mit einer öffentlichen Ohrfeige beendet. Liegt das Rebellische in Ihrer Familie?
Da ist was dran. Mein Vater saß für seine Meinung 18 Monate im Gefängnis. Wenn man so eine Familiengeschichte hat, dann ist man nicht so leicht durch Beschimpfungen und verbale Repressalien zu erschrecken. Ich stehe für meine Meinungen auch da ein, wo es anderen vielleicht zu sehr weh tut. Ich weiß, dass es schlimmer kommen kann. Das bisschen Streit, das halt ich aus.

Die Idee, die Grünen zu verlassen, kam ihnen nie?
Das wünschen sich vielleicht ein paar linke Dogmatiker in meiner Partei. Aber den Gefallen tue ich ihnen nicht. Ich finde es grundsätzlich falsch, sofort auszutreten, wenn man mal in einer Frage eine Minderheitsmeinung in seiner Partei vertritt. In 90 Prozent der Themen bin ich in voller Übereinstimmung mit der Parteilinie. Ich bin überzeugter Ökologe. Für mich geht der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen allen anderen Politikbereichen vor. Außerdem hat meine Partei in den vergangenen Jahrzehnten schon viele Wandlungen durchgemacht. Vor allem in Baden-Württemberg sind wir sehr pragmatisch. Das Regierungshandeln unter Ministerpräsident Winfried Kretschmann entspricht dem, was ich erwarte, auch wenn es um Flüchtlinge geht.

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