Die Kommentare waren schnell geschrieben nach dem Wahlerfolg von Olaf Scholz am Sonntag in Hamburg. 45,7 Prozent der Wählerstimmen hatte der Amtsinhaber für seine SPD geholt, den Koalitionspartner kann er sich jetzt aussuchen. Der CDU fehle die Großstadtkompetenz, schlussfolgerte die „Frankfurter Allgemeine“. Der kahle Landesvater sei so nüchtern und langweilig, dass er als Merkel-Kopie durchgehen könne. Und genau das wollten die Leute heutzutage eben sehen, so analysierte die „Süddeutsche Zeitung“. Und was lernen wir aus all dem? Olaf Scholz, der beste Mann der SPD – wenn die Sozialdemokraten bei der kommenden Bundestagswahl eine Chance haben wollen, dann sollten sie auch an ihn denken, rät „Spiegel Online“.
Doch diese Argumentationsmuster hat einen Haken: Sie überschätzen die Bedeutung des Individuums Olaf Scholz maßlos. Wenn man den Blick über die Wahl in Hamburg weitet, dann fällt zunächst auf, dass sich ziemlich selten etwas ändert. Bei den drei Wahlen im vergangenen Jahr in Sachsen, Brandenburg und Thüringen gab es nur einen einzigen Machtwechsel – und auch der hatte einen Haken. In Erfurt ersetzte die rot-rot-grüne zwar die große Koalition. An den Mehrheitsverhältnissen tat sich aber herzlich wenig: Die CDU blieb stärkste Kraft, nur die Arithmetik der Stimmanteile auf den hinteren Plätzen hatte sich verschoben. Ähnlich war es in Niedersachsen ein Jahr zuvor.
Die großen Grundsatzprogramme der SPD
Die SPD gilt als klassische Programmpartei. Die CDU/CSU wird von den Sozialdemokraten gerne als „Kanzlerwahlverein“ verspottet - auch im Bundestagswahljahr 2013 dominiere inhaltliche Leere und Unschärfe. Bei der SPD standen Inhalte meist über Personen. Seit 1863 hat sie sich acht Grundsatzprogramme gegeben.
Nach dem Eisenacher Programm (1869) und dem Gothaer Programm (1875) der Gründerorganisationen Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein (ADAV), Sozialdemokratischer Arbeiterpartei Deutschlands (SDAP) und Sozialistischer Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) ist das Erfurter Programm das erste Programm der SPD. Als erste Partei in Deutschland fordert sie die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer und Frauen, eine Abschaffung von Gesetzen, die Frauen benachteiligen, und die Einführung eines Acht-Stunden-Tages sowie ein Arbeitsverbot für Kinder unter 14 Jahren. Insgesamt strebte die Partei eine Überwindung des herrschenden Systems an - das Programm war vom Marxismus geprägt.
Im Görlitzer Programm bekannte sich die Partei erstmals dazu, nicht nur Klassenpartei der Arbeiter zu sein, sondern eine Art linke Volkspartei. Fast visionär mutet heute das Heidelberger Programm von 1925 an, in dem eine Zurückdrängung des Finanzkapitals gefordert wurde. Aus ökonomischen und politischen Gründen sei die Schaffung einer europäischen Wirtschaftsunion notwendig, die SPD schlug daher die Gründung der „Vereinigten Staaten von Europa“ vor.
Am bekanntesten ist das Godesberger Programm, das gemeinhin unter der Überschrift „Abschied vom Marxismus“ firmiert. Es wurde für 30 Jahre Richtschnur der Partei und ebnete den Weg hin zu einer Volkspartei mit über einer Million Mitgliedern in den 70er Jahren. Der Weg zum Sozialismus war nun nicht mehr das erklärte Ziel. Die Partei bemühte sich um eine Annäherung an die katholische Kirche und versuchte, auch für die Wirtschaft attraktiver zu werden.
Nach dem Berliner Programm 1989 dauerte es nur acht Jahre bis 2007 das aktuell gültige Hamburger Programm beschlossen wurde. Es soll die Partei für das 21. Jahrhundert positionieren, etwa mit Blick auf eine politische Gestaltung der Globalisierung. Wichtige Punkte sind die internationale Stärkung der Demokratie und eine Eindämmung der Macht von global agierenden Konzernen. Aber im Fokus stehen auch Themen wie Klimaschutz und Sicherung ökologischer Lebensgrundlagen. Die Partei fordert zudem ein sozialeres und demokratischeres Europa sowie eine stärkere Beteiligung der Bürger („Bürgergesellschaft“).
Zwar übernahm Stephan Weil (SPD) das Ministerpräsidentenamt von der Konkurrenz, die meisten Stimmen aber hatte die bis dahin regierende CDU erreicht. So war es auch in Baden-Württemberg 2011: Stefan Mappus verlor die Macht, mit knapp 40 Prozent aber blieb die CDU deutlich stärkste Kraft. Genau umgekehrt lief es in Nordrhein-Westfalen. Hier stieß die SPD zwar 2012 die CDU als stärkste Partei vom Thron, den Machtwechsel aber hatte sie bereits zwei Jahre vorher mit der Bildung einer Minderheitsregierung erlangt.
Regierungswechsel gehen nur selten mit einer echten Abwahl einher
All das sind Beispiele dafür, dass Regierungswechsel nur selten mit einer echten Abwahl einhergehen. Viel häufiger sind die das Ergebnis machtpolitischer Abwägungen, auf die weder die Wähler noch die Präsenz des Kandidaten im Wahlkampf großen Einfluss haben. Als bewussten Regierungswechsel, wo also Profil und Programm der Opposition so viel besser sind als die Alternativen bei der Regierung, kann eine Wahl aber nur dann gelten, wenn sowohl die Mehrheit, als auch die Macht die Seite wechseln.
Ein Paradebeispiel dafür ist die Niedersächsische Landtagswahl 2003. Der Ministerpräsident Sigmar Gabriel war zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Jahre lang im Amt und hatte die Möglichkeit, seine Macht zu festigen. Es gab zudem keinen Koalitionspartner, mit dem er sich hätte überwerfen können. Auch von dominanten externen Faktoren wie speziellen Affären ist nichts bekannt. Dennoch gelang 2003 Christian Wulff der absolute Triumph: Seine CDU steigerte ihren Stimmanteil von 35,9 Prozent auf 48,3 Prozent, zugleich erreichte die regierende SPD statt 47,9 Prozent wie 1998 nur noch 33,4 Prozent. Ein klares Zeichen: Die Wähler wollten die alten Gesichter nicht mehr. Doch so eindeutig geht es nur selten zu. Betrachtet man alle 87 Landtagswahlen, die in Deutschland nach 1990 stattgefunden haben – nur diese Wahlen sind vergleichbar, da 1990 in den neuen Bundesländern erstmals gewählt wurde und ein Mehrheitswechsel somit nicht möglich war – so zeigt sich, dass es nur bei 13 dieser Wahlen einen Wechsel der stärksten Partei gegeben hat. Mit anderen Worten: Nur bei 15 Prozent der Wahlen haben sich die Mehrheitsverhältnisse tatsächlich gedreht.
Oft wechselt die Mehrheit, nicht die Macht
Und selbst diese zwölf Wahlen brachten nicht immer den Machtwechsel mit sich. Wie 2012 in Nordrhein-Westfalen wechselte auch 2001 in Berlin zwar die Mehrheit, nicht aber der Macht. Denn bereits ein paar Monate vorher war der CDU-Ministerpräsident Eberhard Diepgen über einen Bankenskandal gestürzt, Oppositionsführer Klaus Wowereit (SPD) hatte übergangsweise eine Minderheitsregierung gebildet – und sich damit den Amtsbonus gesichert. Ähnlich der Sieg der SPD 1998 in Sachsen-Anhalt. Zwar eroberten die Genossen hier die Position der stärksten Partei von der CDU, die Macht hatten sie sich aber bereits vier Jahre vorher mittels einer Minderheitsregierung mit den Grünen unter Tolerierung der PDS (Magdeburger Modell) gesichert. Auch die Wahl in Hamburg 2011, bei der Olaf Scholz Macht und Mehrheit errang, war ein Triumph mit Sternchen. Denn ein paar Monate vorher war die schwarz-grüne Koalition zerbrochen, statt über einen Amtsbonus verfügte CDU-Kandidat Christoph Ahlhaus eher über den Malus des Koalitionszerstörers. Bei all diesen Wahlen war der Amtsbonus schon während der Legislaturperiode verloren gegangen.
Lässt man diese vier Wahlen außen vor, gelang bei lediglich neun von 87 Wahlen (10,3 Prozent) ein echter Sieg gegen den Amtsbonus. Eine ziemlich mickrige Quote. Das könnte daran liegen, dass die Kandidaten bei Landtagswahlen sich meist sehr schwer tun, überhaupt bekannt zu werden. Wie hieß nochmal der CDU-Kandidat in Brandenburg im vergangenen Sommer? Genau. Viele Wähler entscheiden sich wohl fast immer für den Amtsinhaber, wenn ihnen keine groben Fehler bekannt werden. Da die Kompetenzen der Länderparlamente arg beschränkt sind, ist es sehr schwierig, mit politischen Entscheidungen solche Fehler überhaupt zu begehen. Es bleibt die Überlagerung der Wahl durch bundespolitische Themen – doch darauf hat der Kandidat in Saarbrücken oder Schwerin beim besten Willen keinen Einfluss.
Die Analyse der Machtwechsel liest sich damit wie der dringende Ratschlag, sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Macht zu sichern. Mögen die Koalitionsverhandlungen auch noch so schwierig werden. Denn sobald sich die Machtverhältnisse einmal gedreht haben, entsteht daraus schnell eine stabile neue Mehrheit. So waren es 2005 in Schleswig-Holstein – CDU und SPD hatten ein annähernd gleiches Ergebnis erzielt – nur eine Handvoll Abweichler, die Heide Simonis die Wiederwahl verdorben. Auf zwanzig Jahre SPD-Mehrheit folgten seitdem zwei weitere Wahlen mit CDU-Mehrheit. Was für ein Leichtsinn, 2012 dennoch der SPD die Koalitionsbildung zu überlassen!
Im Durchschnitt aller Bundesländer liegt der letzte Mehrheitswechsel mehr als 20 Jahre zurück
Ähnlich war es in Berlin, wo seit dem über eine Minderheitsregierung eingeleiteten Wahlsieg von Klaus Wowereit zwei weitere Male die SPD zur stärksten Kraft wurde. Auch im Saarland, wo die SPD seit 1980 immer stärkste Kraft geworden war, änderte der Mehrheits- und Machtwechsel 1999 alte Gewissheiten: Die CDU hat bei den drei folgenden Wahlen jeweils deutlich die Mehrheit der Stimmen geholt. Im Durchschnitt aller Bundesländer liegt der letzte Mehrheitswechsel fünf Wahlen – oder mehr als 20 Jahre – zurück. Dabei gab es in drei ostdeutschen Ländern ohne Mehrheitswechsel (Sachsen, Brandenburg, Thüringen) erst sechs Wahlen, die in die Berechnung einfließen konnten. Als die SPD unter Rudolf Scharping 1991 in Rheinland-Pfalz die Wahl gewann, kam das gar einer Zeitenwende gleich: Seit Gründung der Bundesrepublik hatte die CDU hier jede Wahl gewonnen. Es folgten 19 Jahre Kurt Beck – und kein einziger Wahlsieg der CDU.
Um die Leistung von Olaf Scholz endgültig zu relativieren: Die erste Wahl nach der Machtübernahme ist nach 1990 gar bei keiner einzigen Landtagswahl verloren gegangen. Es spricht also viel dafür, dass bei den kommenden Wahlen in Thüringen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein die mit frischem Amtsbonus ausgestatteten linken Koalitionen gewinnen. Aber auch dafür lässt sich dann sicher eine innovativere Erklärung finden. Nur die Sache mit den Großstädten, die scheidet diesmal leider aus. Erfurt hat 200.000 Einwohner – der Bezirk Eimsbüttel 250.000.