




Um ein Gefühl für das Jahr 2015 zu bekommen, sollte man sich gedanklich ein Jahrzehnt zurückversetzen. Zehn Jahre klingt nicht nach viel, aber Deutschland 2005, das war eine Republik, die uns heute – politisch und wirtschaftlich - so überholt, so historisch vorkommt wie Birne-Karikaturen von Helmut Kohl. Es war das Land, durch das erst noch ein Ruck gehen musste, mit einer rot-grünen Bundesregierung, die Neuwahlen ausrief, die ein alarmistischer Bundespräsident namens Horst Köhler apokalyptisch raunend bestätigen sollte.
2005 war die hohe Arbeitslosigkeit ein Thema, es gab Montagsdemos gegen die Hartz-Reformen und das süße, unverbrauchte Fußballerduo Poldi und Schweini hatte noch nicht einmal ein Sommermärchen erlebt. Das Unwort des Jahres lautete „Entlassungsproduktivität“.
Das Wort desselben Jahres, ganz nebenbei, war: „Bundeskanzlerin“. Heute kann man sich bei Angela Merkel gar nicht mehr recht vorstellen, dass sie einst nur mit Ach und Krach ins Amt kam. Dass sie sich die Kanzlerschaft erst aus dem Wolfsmaul Gerhard Schröders reißen musste, der es nicht hergeben wollte.
Diese Frau also, deren Verhältnis zu ihren Bürgern man heute fast als zärtlich, mindestens aber als herzlich zugeneigt bezeichnen muss, steht anno 2015 in einem hübsch ausgeleuchteten Veranstaltungssaal der nicht minder hübschen Kulturbrauerei im noch viel hübscher durchsanierten Berlin-Prenzlauer Berg inmitten von sechzig herzlichst zugeneigten Bürgern und sagt: „Ich möchte hören, was Ihnen wichtig ist.“
Wie nett. Man muss diese Frau einfach mögen. Und dieses Land? Ist ganz zufrieden mit sich, im Reinen, geradezu seelisch in Watte gepackt.
In Deutschland ist alles ziemlich in Ordnung
Bürgerdialog. Regierungsstrategie „Gut leben“. Für solche Projekte sind 2015 Muße, Sinn und Zeit vorhanden. Da draußen in der Welt steht vielleicht der Euro auf der Kippe und die Weltkonjunktur hat Husten, aber drinnen ist eigentlich ziemlich vieles in Ordnung. Politik als Feinjustierung des Glücks, verbunden mit der Erkenntnis, dass Selbstverständliches wie der Kontakt von Volk und Volksvertretern Event-inszeniert werden kann wie eine kleine Sensation.
In rund anderthalb Stunden spricht Angela Merkel bei dieser Begegnung über soziale Ungleichheit und Mütterrente, über Zuwanderung und Asyl, Adoption und künstliche Befruchtung, private Krankenkassen und einen Mangel an Feuerwehrautos in Oberfranken. Sie kann über Details bei der Angleichung von Ost- und Westrenten ebenso präzise räsonieren wie über das Für und Wider von Pflegeelternschaft. Nicht eine Sekunde wirkt es so, als würde Merkel sich eigentlich lieber auf ihren Nachmittagstermin mit einem gewissen Francois Hollande vorbereiten.
Eigentlich sollen bei den Bürgerdialogen die Gäste schildern, was aus ihrer Sicht ein gutes Leben ist. Die Ergebnisse möchte die Bundesregierung später wissenschaftlich aufbereiten lassen. „Ich will ja wissen, was Sie wollen“, „Ich nehme mit“, das sind Formulierungen, die Merkel häufiger verwendet an diesem Nachmittag. Aber die Formate mit der Kanzlerin selbst sind dann natürlich doch eher Bürgerfragestunden – übertragen von Phoenix.
Hängen bleibt dabei vor allem das Bild einer Kanzlerin, deren häufig beklagter Mangel an Führung und Überzeugung womöglich nichts anderes ist als die Lust, Optionen zu haben und Alternativen bis in die letzte Verästelung zu durchdenken. In einer Welt, die eben keine Bastas mehr kennt und keine Weltformel, sondern nur zweitbeste Lösungen, Kompromisse, kleine Schritte.
Gegen Ende bekennt ein aus den Niederlanden stammender Gast, er fühle sich in Deutschland „saugut“, Merkel sei sehr populär in seiner Heimat, wie denn die Kanzlerin mit der vielen Kritik umgehe, die sie gerade in der Europapolitik ertragen müsse? „Mir geht’s nicht schlecht“, antwortet sie. Auf Merkeldeutsch heißt das so viel wie: Danke der Nachfrage, ging nie besser.