
Im Juni war es genug. Zum dritten Mal schickte ein Verwaltungsrichter dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) die Klage eines jungen Iraners gegen einen Asylbescheid zu – das Bundesamt hatte sie bereits zwei Mal verschlampt. „Für den Fall der vollständigen Desorientierung der Behörde stellen wir bei Nachweis der Desorientierung die Klage gerne erneut zu“, hämmerte er in seine Tastatur.
Ein anderer Richter schrieb im Januar an das Bamf: „Es wird Ihnen aufgegeben, die Asylakte sofort vorzulegen! Dem sind Sie bislang trotz Erinnerung nicht nachgekommen.“ Drei Monate zuvor hatte er die Akte erstmals angefordert.
Dutzende solcher Schreiben liegen der WirtschaftsWoche vor. Sie spiegeln den desolaten Zustand der Behörde im Prozessbereich wider. Rund 250.000 Asylfälle sind aktuell vor Verwaltungsgerichten anhängig – die rund 64 Prozesssachbearbeiter des Bamf sind völlig überlastet. Die Behörde stellt keine Akten zu. Sie ist bei Prozessen in der ersten Instanz nicht vertreten und erstattet Prozesskosten nicht rechtzeitig.
Das Gebaren des Bundesamts frustriert nicht nur Richter, deren Hauptbeschäftigung mittlerweile Asylverfahren sind und Asylsuchende, die über Jahre hinweg keine Gewissheit haben – es kostet Bund und Länder auch Millionen an Steuergeldern. Wie groß die Summe ist, ist nicht zu beziffern. Ein Sprecher des Bundesrechnungshofs sagt: „In diesem Bereich liegen keine Prüfungserkenntnisse vor.“ Eine entsprechende Prüfung sei auch in diesem Jahr nicht mehr geplant. Unterlagen, die der WirtschaftsWoche vorliegen, lassen die Dimensionen zumindest erahnen.
Von Januar bis März 2017 wurde gegen jeden Dritten Entscheid des Bamf geklagt. Eine Folge der mangelhaften Qualität der Entscheide, sagt Rechtsanwältin Oda Jentsch: „Ob ein Asylsuchender einen Schutzstatus erhält und wenn ja, welchen, ist oft willkürlich.“ Albert Lohmann, Richter am Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Mitglied des Vorstands der Neuen Richtervereinigung und seit 35 Jahren im Asylrecht tätig, bestätigt: „Die Qualität der Bamf-Bescheide war nie so schlecht.“
Asylanträge nach Bundesländern 2017
Nirgendwo sonst wurden so vielen Asylanträge gestellt wie in Nordrhein-Westfalen. In der ersten Jahreshälfte 2017 waren es bisher 32.122 Menschen.
Hinweis: Alle Daten beziehen sich auf Erst- und Folgeanträge in den Monaten Januar bis Juni 2017.
Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge / Statista
Stand: August 2017
12.921 Menschen haben in der ersten Hälfte des Jahres 2017 in Bayern einen Asylantrag gestellt.
In Baden-Württemberg wurden 2017 bisher 11.290 Asylanträge gestellt.
In Niedersachsen stellten 10.003 Menschen im Januar bis Juni 2017 einen Antrag auf Asyl.
In Rheinland-Pfalz beantragten 2017 bislang 7.610 Menschen Asyl.
In Hessen stellten in den ersten sechs Monaten 2017 7.508 Bewerber einen Asylantrag.
In Berlin wurden von Januar bis Juni 2017 5.535 Anträge auf Asyl gestellt.
Bis Mitte 2017 stellten 4.205 Menschen einen Asylantrag in Sachsen.
3.346 Asylanträge verzeichnet Schleswig-Holstein für die ersten sechs Monate 2017.
Einen Asylantrag in Sachsen-Anhalt stellten bis Juni 2017 3.304 Menschen.
Asyl in Brandenburg beantragten in der ersten Jahreshälfte 3.162 Menschen.
In Thüringen wurden in den Monaten Januar bis Juni 2017 3.049 Asylanträge gestellt.
In Hamburg stellten bis Ende Juni 2017 2.633 Menschen einen Antrag auf Asyl.
In Mecklenburg-Vorpommern stellten 2.104 Menschen einen Asylantrag (Januar bis juni 2017).
Bis Juni 2017 stellten im Saarland 1.538 Menschen einen Asylantrag.
In Bremen beantragten bis Ende Juni 1.192 Menschen Asyl.
Bei 94 Asylanträgen bis Mitte 2017 ist das Bundesland, in dem der Antrag gestellt wurde, anscheinend unbekannt.
Das treibt die Zahl der Klagen gegen das Bundesamt in die Höhe – und die Erfolgsquote für die Kläger. Von Januar bis März 2017 entschieden die Gerichte rund 20.000 Verfahren – das Bamf unterlag in jedem Vierten. Im gesamten Jahr 2013 waren es noch lediglich 40.000 Verfahren – zudem verlor die Behörde in den Vorjahren nur jedes Zehnte. Entsprechend entwickelten sich die Ausgaben des Bamf im Prozessbereich: Fielen 2016 noch 11,3 Millionen Euro Gerichtskosten an, sind für 2017 bereits rund 20 Millionen Euro eingeplant.
Unterliegt das Bamf vor Gericht, trägt es nämlich die Kosten des Verfahrens – auch die der Gegenseite. Ein Rechtsanwalt beantragte etwa im Mai dieses Jahres bei einem Verwaltungsgericht „die verzinsliche Festsetzung nachstehend berechneter Gebühren und Auslagen zu Lasten der Beklagten“, also des Bamf: 979,97 Euro. Eine gängige Höhe, wie eine interne Aufstellung zeigt.