Bundesfinanzhof Höchstes Steuergericht knöpft sich Kassenbetrug in Gastronomie vor

Beim Kassenbetrug entgehen Bund, Ländern und Gemeinden bis zu zehn Milliarden Euro Umsatz-, Einkommen- und Gewerbesteuer, schätzen die Finanzministerien von Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Quelle: dpa

Der Bundesfinanzhof will über Steuerhinterziehung in bargeldintensiven Betrieben bald eine Entscheidung „von besonderer Bedeutung“ treffen. Es geht um viele Milliarden Euro – und die Bonpflicht.

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Tausende Gastronomen, Bäcker, Friseure, Imbissbudenbesitzer und Händler werden in diesem Jahr gebannt auf ein Urteil des Bundesfinanzhofs warten. Das höchste deutsche Steuergericht befasst sich nämlich mit der Klage eines ehrlichen Restaurantbetreibers vom Bodensee und misst seiner in den nächsten Monaten anstehenden Entscheidung bereits selbst eine „besondere Bedeutung“ zu. Das kündigte das Gericht bei der Vorlage seines Jahresberichts und dem Ausblick auf Entscheidungen in 2021 an. Je nach Urteil könnte die Bundesregierung dazu gezwungen werden, gegen den milliardenschweren alltäglichen Steuerbetrug durch nichtregistrierte Umsätze konsequent vorzugehen. Dabei dürfte es nicht reichen, dass die Finanzverwaltung die vom Gesetzgeber bereits beschlossene Bonpflicht samt manipulationssicheren Registrierkassen endlich durchsetzt.

Beim Kassenbetrug geht es keinesfalls um Kleinbeträge. Die Finanzministerien von Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz schätzen, dass Bund, Ländern und Gemeinden bis zu zehn Milliarden Euro Umsatz-, Einkommen- und Gewerbesteuer entgehen. Pro Jahr. Der Bundesrechnungshof hält die Zahl für plausibel: Die Gleichmäßigkeit der Besteuerung bargeldintensiver Betriebe, warnen die Prüfer, sei „nicht sichergestellt“. Mit anderen Worten: Es handelt sich um ein Staatsversagen. Vor den Augen aller.

Bei der Klage lautet der Vorwurf auf „strukturelles Vollzugsdefizit bei bargeld-intensiven Betrieben“. Kläger Klaus Baldauf betreibt mehrere Gaststätten und Hotelbetriebe und fühlt sich gegenüber der Konkurrenz benachteiligt, da viele nicht korrekt all ihre Umsätze angäben. Folglich zahle er mehr Steuern und müsse mit höheren Preisen kalkulieren. Das aber kostet Kunden, Umsatz und Gewinn. Baldauf, der auch Jurist ist und eine Kanzlei betreibt, erklärt daher, bei bargeldintensiven Betrieben liege ein strukturelles Vollzugsdefizit bezüglich der Erfassung von Bareinnahmen vor, das eine gleichmäßige Besteuerung aller Marktteilnehmer verhindere und die Ehrlichen benachteilige.

Dieser Vorwurf hat es in sich – auch für Vater Staat. Denn wenn die Justiz ein strukturelles Vollzugsdefizit feststellt, darf der Fiskus streng genommen keine Steuern in dem Bereich mehr eintreiben. So geschehen in den Neunzigerjahren, als das Bundesverfassungsgericht bei der Vermögensteuer eine gleichmäßige Behandlung von Immobilien und sonstigem Vermögen nicht gewährleistet sah. Die Folge: Der Gesetzgeber musste die Vermögensteuer abschaffen. Das droht jetzt auch – und dies ist der Grund, weshalb das Bundesfinanzministerium sich in das Verfahren eingeschaltet hat und dem beklagten Finanzamt beispringt.

Zwar hat die Bundesregierung einiges unternommen, um bargeldintensive Geschäfte zu mehr Steuerehrlichkeit zu zwingen. Finanzminister Olaf Scholz (SPD) hat gegen massive Widerstände aus der Wirtschaft durchgesetzt, dass elektronische Registrierkassen speziell gesichert werden und Umsätze nicht mehr nachträglich nach unten korrigiert werden können. Außerdem gibt es seit Anfang 2020 eine Bonpflicht, gegen die vor allem das Bäckerhandwerk Sturm lief und in einem genialen PR-Coup ausrechnen ließ, dass die Bons aneinandergereiht bis zum Mond reichen würden und damit ökologisches Teufelszeug seien.

Allerdings verzögert sich die Umsetzung weiter. Betriebe bekamen immer wieder Fristverlängerungen bei der Umrüstung der Kassen. Die jüngste Frist läuft bis Ende März 2021. Aber auch dann gibt es für Steuerhinterzieher ein „scheunentorgroßes Schlupfloch“, kritisiert etwa Thomas Eigenthaler, Vorsitzender der Deutschen Steuergewerkschaft. Denn, so Eigenthaler, betroffen seien nur diejenigen, die bereits eine elektronische Registrierkasse haben. Wer aber nach wie vor nur eine offene Ladenkasse hat, für den heiße es Business as usual – auch beim Schummeln gegenüber dem Fiskus.

Die Bonpflicht ist aus Sicht des Gewerkschaftsvorsitzenden ebenfalls löchrig. Die meisten Bons, die er sehe, genügten noch immer nicht den TSE-Anforderungen, seien also nicht manipulationssicher. Außerdem gebe es – anders als in Österreich oder Italien – keine Pflicht für die Kunden, die Bons mitzunehmen. Damit sinke das Entdeckungsrisiko für Gastwirte oder andere, wenn sie gar nicht die genauen Umsätze eintippen.

Für den Widerstand gegen eine flächendeckende Verpflichtung aller Ladenbesitzer, eine elektronische Registrierkasse zu führen – und das vielfache Verständnis in der Politik –, hat Eigenthaler seinerseits kein Verständnis. „Alle Welt fordert die Digitalisierung, aber bei der Ladenkasse ist das offenbar unzumutbar“, wundert sich Eigenthaler.

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Der Gewerkschaftschef hofft ebenso wie der steuerehrliche Gastronom Baldauf, dass der Bundesfinanzhof ein „strukturelles Vollzugsdefizit“ bei bargeldintensiven Geschäften sieht, folglich verfassungsrechtliche Bedenken äußert und den Fall an das Bundesverfassungsgericht verweist. Sollte dann Karlsruhe einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz feststellen, müsste die Politik letztlich handeln.

Mehr zum Thema: In Restaurants, Kiosken und auf Wochenmärkten spielt sich Deutschlands größter Steuerskandal ab: Vor den Augen aller versickern Umsätze, die nie in einer Steuererklärung stehen werden. Die Anatomie eines Staatsversagens.

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