Bundeskanzlerin Merkel wird 65 – „Man wird nicht jünger. Aber erfahrener. Vielleicht“

Quelle: dpa

Zum 65. Geburtstag zeigt die Bundeskanzlerin ungewohnt körperliche Schwäche. Unklar ist, ob sie in der Politik noch den selbstbestimmten Ausstieg schafft.

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Berlin Angela Merkel hat schon viele Krisen gesehen in ihren bald 14 Jahren Kanzlerschaft. Finanzkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise, diverse Koalitionskrisen. Und nun kämpft sie auch noch mit einer Gesundheitskrise. Ausgerechnet kurz vor ihrem 65. Geburtstag an diesem Mittwoch. Die Kanzlerin muss sich eingestehen, dass ihr Körper nicht immer das macht, was der Geist von ihm will.

Insgesamt dreimal hat Merkel nun bereits in der Öffentlichkeit gezittert. Selbst mit ihrer sonst eisernen Willenskraft ist es ihr nicht gelungen, die Krämpfe zu unterdrücken. Dabei sind ihre Robustheit und Nervenstärke etwa in durchverhandelten Nächten legendär und gefürchtet.

Inzwischen reagiert Merkel pragmatisch. Zuerst in der vergangenen Woche beim Besuch der dänischen Regierungschefin Mette Frederiksen und dann am Dienstag auch beim Empfang der moldauischen Ministerpräsidentin Maia Sandu lässt sie zur Begrüßung mit militärischen Ehren einfach zwei Stühle auf das rote Podest stellen.

Sie sei „fest davon überzeugt, dass ich gut leistungsfähig bin“, versucht Merkel Zweifel auszuräumen, ob sie ihr Amt noch richtig ausfüllen kann. Sie spricht von einer Verarbeitungsphase des Zitterkrampfes, den sie beim Besuch des neuen ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj am 18. Juni erlitten hat. Doch Merkel scheut sich zuzugeben, dass sie beim Arzt war. Man dürfe aber davon ausgehen, „dass ich auch als Mensch ein großes persönliches Interesse daran habe, dass ich gesund bin und auf meine Gesundheit achte“.

Die Zitterattacken haben Sorgen wachsen lassen, dass sich die Kanzlerin zu viel zumutet. Plötzlich wird ganz genau auf mögliche Anzeichen einer Krankheit geschaut, so auch am vergangenen Sonntag, als sie bei einem Statement vor Journalisten in Paris ungewohnt kurzatmig war.

Nicht auszuschließen, dass die 18 Jahre an der CDU-Spitze mit ständigen internen Rangeleien und die Jahre als Regierungschefin mit Rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit tiefe Spuren bei Merkel hinterlassen haben. Auch den Tod ihrer Mutter Herlind Kasner im April soll sie noch nicht wirklich verarbeitet haben.

Vor mehr als 20 Jahren schon hatte sie der Fotografin Herlinde Koelbl gesagt, sie wünsche sich, nicht als „halbtotes Wrack“ aus der Politik auszusteigen. Wird Merkel noch selbstbestimmt den richtigen Zeitpunkt für den Abschied von der Politik finden?

Der Terminkalender der Kanzlerin sieht nicht so aus, als denke sie mit nunmehr 65 an die Rente. Selbst an ihrem Geburtstag wird sie wie immer mittwochs das Kabinett leiten. Regierungsalltag eben.

Keine große Festivität wie zum 60. Geburtstag ist bislang bekannt. Damals hatte sich Merkel einen Vortrag des Konstanzer Historikers Jürgen Osterhammel gewünscht. Der sprach in der CDU-Zentrale vor 1000 Gästen über „Zeithorizonte der Geschichte“.

Direkt vor ihrem Ehrentag stand am Dienstag auch noch die nächste Nervenprobe für Merkel an: die Wahl ihrer Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen zur EU-Kommissionspräsidentin. Schon vorher war durch deren angekündigten Rücktritt für diesen Mittwoch klar: Es wird in jedem Fall eine kniffelige Umbildung des Kabinetts geben. Und damit möglicherweise neue Unruhe in der GroKo.

Gegner attestierten Merkel Machtverfall

Stabilität und Ruhe sind nicht gerade Elemente, die die vierte und letzte Regierungszeit der Kanzlerin prägen. Politische Gegner sind nicht die einzigen, die Merkel einen Verfall der Macht attestieren.

Viele machen den vermeintlichen Machtverlust schon an den gescheiterten Jamaika-Verhandlungen mit FDP und Grünen nach der Wahl 2017 fest. Und am Zustand von Merkels aktueller dritter Großen Koalition. Schwarz-Rot wackelt permanent. Man kann aber, wie manche Merkel-Getreue, auch fragen: Was kann Merkel dafür, dass die SPD so zickt? Oder die FDP kneift. Oder dass die CSU mit Horst Seehofer beim Thema Migration die Regierung bis an den Rand des Scheiterns treibt.

Merkel kämpfe mit einer sich tiefgreifend verändernden politischen Landschaft, halten ihr Unterstützer zugute. Stabile Zweierbündnisse wie früher sind da kaum noch zu bilden. Kritiker wie Friedrich Merz oder die besonders konservative CDU-Splittergruppe Werte-Union machen vor allem Merkels Migrationspolitik für die schwindende Kraft der Union verantwortlich.

Dabei kann sich Merkel inzwischen wieder über hohe Beliebtheitswerte freuen. Aber Kritiker sagen: Diese Sympathiewerte ziehen die CDU nicht mit. Die Partei dümpelt in Umfragen zuletzt stabil weit unter 30 Prozent, mit den Grünen auf den Fersen.

Gegner halten Merkel zudem mangelnden Einsatz im Europawahlkampf vor. Unter ihren größten Widersachern heißt es, es gehe der Kanzlerin schon lange nicht mehr um die CDU. Ihr Programm sei zu egoistisch.

Da zählt wenig, dass Merkel auf internationaler Ebene noch immer als einzige Politikerin gilt, die von Donald Trump, Wladimir Putin oder dem Chinesen Xi Jinping ernstgenommen wird. Eher wird der Kanzlerin vorgehalten, sie bastele mit viel Pathos am Vermächtnis. Etwa mit ihrer aufsehenerregenden Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz oder der umjubelten Ansprache vor Tausenden Studenten an der US-Eliteuniversität Harvard.

Hält Schwarz-Rot bis Weihnachten durch, hat Merkel länger regiert als der erste Kanzler der Bundesrepublik, Konrad Adenauer, der von 1949 bis 1963 genau 14 Jahre und einen Monat amtierte. Ob es der Kanzlerin wichtig ist, auch die 16 Jahre Regierungszeit ihres Unionsvorgängers und früheren CDU-Übervaters Helmut Kohl zu toppen? Das geht nur, wenn die Koalition tatsächlich bis 2021 regiert.

Aber in der Union rechnen viele damit, dass es im Frühjahr 2020 eine vorgezogene Neuwahl gibt – falls die SPD sich vorher für die Opposition entscheidet. Was Kohls Amtsdauer betrifft, sagen Menschen aus Merkels Umgebung: So tickt sie nicht.

Doch wie geht es weiter, falls die SPD aussteigt? Eine längere Zeit der Minderheitsregierung wird mit Merkel kaum zu machen sein. Für das größte und stärkste Land der EU ist eine derart wackelige Regierungsform nicht praktikabel, ist die Kanzlerin überzeugt. Die Übergangszeit bis zur vorgezogenen Wahl dürfte sich deswegen eher in Monaten bemessen. Zumal Deutschland im zweiten Halbjahr 2020 die wichtige EU-Ratspräsidentschaft innehat. Instabilität unerwünscht.

Merkel hat immer wieder betont, sie stehe bis zum regulären Ende der Regierung 2021 als Kanzlerin zur Verfügung. An CDU oder CSU wird die von vielen ungeliebte Koalition kaum scheitern, versichern auch CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer und der CSU-Vorsitzende Markus Söder. Zu groß ist die Angst vor dem Unmut der Anhänger, die nichts weniger schätzen als eine Union, die Instabilität verursacht.

Besonderes Verhältnis zu AKK

Von manchen Auftritten Kramp-Karrenbauers sei die Kanzlerin nicht gerade begeistert, ist von Menschen zu hören, die Merkel gut kennen. Kramp-Karrenbauers Distanzierung von der Merkel'schen Migrationspolitik wird als Beispiel genannt oder ihr Umgang mit dem Video des Youtubers Rezo („Zerstörung der CDU“).

Auch bei ihrer Antwort auf die Europavisionen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron soll Merkel die Stirn gerunzelt haben. Die Saarländerin hatte den Franzosen auch mit der Forderung nach einer Abschaffung des EU-Parlamentssitzes Straßburg verärgert. Geflissentlich übersehen wird bei dieser Kritik, dass die Kanzlerin selbst eine Antwort auf Macrons Frage schuldig geblieben war.

Auch der Umfrage-Höhenflug der Grünen, die sogar schon mal vor der Union lagen, sorgt nicht gerade für Entspannung zwischen den beiden mächtigen CDU-Frauen. Lange hatte die früher als Klimakanzlerin gerühmte Ex-Umweltministerin Merkel den Klimaschutz schleifen lassen.

Seit den „Fridays for Future“-Demos der Schüler und seit der Europawahl steht das Thema bei vielen ganz oben auf der Agenda. Kramp-Karrenbauer kämpft damit, dass die Menschen hier bei der Union weder Konzepte noch Köpfe sehen.

Die Parteichefin hat in Richtung Vorgängerin klar gemacht, bei wem sie ebenfalls Verantwortung für die Lage sieht – auch das wird der Kanzlerin nicht gerade gefallen haben. Unter dem Strich, so wird dennoch von Insidern beteuert, halte Merkel Kramp-Karrenbauer weiterhin für die geeignete Nachfolgerin, auch im Kanzleramt. Ihre Fähigkeit zur Selbstkritik gefalle Merkel, heißt es.

Doch es mag auch an den Alternativen liegen: Ihren langjährigen Gegner Merz dürfte Merkel kaum an der Regierungsspitze sehen wollen. Eher schon möglich, dass sie auch Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidenten Armin Laschet für geeignet hält.

Seit Merkel im Dezember 2018 den CDU-Vorsitz abgegeben hat, gönnt sie sich bei Parteiangelegenheiten nun öfters eine gewisse Lässigkeit, die sie sich in den 18 Jahren zuvor nicht leisten wollte. Da war sie fast immer eine Stunde vor allen anderen in der CDU-Zentrale. Nun rollt Merkel in ihrer gepanzerten Limousine meist pünktlich oder gar erst kurz nach Beginn der Sitzung in die Tiefgarage des Adenauerhauses.

Merkel selbst gibt sich auf die Frage, was der 65. Geburtstag für sie bedeutet, gewohnt bescheiden. Ihr werde bewusst, „dass man immer älter wird“, sagt die Kanzlerin. Zwar sei der 65. nicht ganz so markant wie der 60. oder der 70. Geburtstag. Aber er bedeute eben auch: „Dass man nicht jünger wird. Aber erfahrener. Vielleicht. Alles hat seine gute Seite.“

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