Bundeskongress des DGB Die Gewerkschaften vernachlässigen ihr Kerngeschäft

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Heute sind DGB-Gewerkschaften nicht mehr wirklich die Stimme der kleinen Leute – zumindest nicht der Mehrheit. In der öffentlichen Wahrnehmung erscheinen sie nur als eine von vielen Stimmen im gesellschaftlichen Mainstream der neuen Linken. Dort aber ist das Angebot für Engagierte groß. NGOs und Bürgerinitiativen sind vor allem für junge Menschen attraktiver als Gewerkschaften. Niemand tritt in eine Gewerkschaft ein, um gegen die AfD und für „Vielfalt“ zu kämpfen.

Hoffmann versteckt sich hinter „Virtue Signalling“, also wohlfeilen Phrasen gegen alles „Ewiggestrige“. Er ruft "all den alten und neuen Nazis" entgegen: "Das Grundrecht auf Asyl ist ein Menschrecht". Aber er kann Arbeitnehmern keine glaubwürdige Antwort zu der alles überragenden Frage anbieten, die neben der Digitalisierung über die Zukunft der Arbeitswelt und sozialen Ordnung entscheiden wird: Wie können Offenheit für Einwanderung und Solidarität des Sozialstaats zusammenpassen?

Beides in wachsendem Maße wird es nicht geben können, ohne dass die Fähigkeiten des Sozialstaates überstrapaziert werden. Solidarität und Offenheit befinden sich in einem Spannungsverhältnis. Dieses einzugestehen, wird für die Gewerkschaften in absehbarer Zukunft unbedingt notwendig werden, wenn sie sich nicht weiter von ihrer Klientel entfremden wollen. Von Einwanderung profitieren neben den Einwanderern selbst tendenziell eher die Arbeitgeber, aber in der Regel nicht die einheimischen Arbeitnehmer.

Schon jetzt sind in zahlreichen Betriebsräten neue, aus dem Umfeld von AfD oder anderen rechtspopulistischen Initiativen hervorgegangene Arbeitnehmervereinigungen wie "Zentrum Automobil" präsent. Und je stärker der DGB sich als politische Kampforganisation gegen die „Ewiggestrigen“ inszeniert, desto besser dürften diese Konkurrenten ihr Potential abschöpfen können. Wer das Gewerkschaftswesen und Betriebsräte politisiert und zum Kampfplatz für außerbetriebliche Kulturkämpfe macht, der darf sich nicht wundern, wenn er politische Konkurrenz bekommt.

Die DGB-Gewerkschaften in hergebrachter Form werden ihren Bedeutungsverlust und ihre innere Aufzehrung nur aufhalten können, wenn sie sich vom moralistischen Pathos der neulinken Kulturkämpfe freimachen. Wenn sie ihre Energien nicht mehr daran verschwenden, eine bessere Welt mit besseren Menschen herbeidemonstrieren zu wollen. Wenn sie sich weniger mit „Vielfalt“ beschäftigen. Stattdessen müssen sie sich auf den Kern ihrer Aufgabe konzentrieren und ihren Ur-Wert „Solidarität“ wieder ernst nehmen.  

Solidarität heißt nicht, irgendwie allen Menschen alles Gute zukommen lassen zu wollen. Solidarität funktioniert auf Dauer nur als organisierter Zusammenhalt einer begrenzten Gruppe zur Durchsetzung gemeinsamer Interessen. Die Gewerkschaft Deutscher Lokführer oder die „Unabhängige Flugbegleiter Organisation“ (UFO) machen vor, wie das geht. In Arbeitskämpfen, in Streiks wurden Gewerkschaften geboren. Das war und bleibt der einzige aber unverzichtbare Sinn von Gewerkschaften: Die Gemeinschaft der Arbeitnehmer im Interessenkonflikt gegen die Arbeitgeber zu organisieren. Im Zeitalter prekärer Beschäftigung dürfte da eigentlich genug Organisationsbedarf für geltungsbedürftige DGB-Funktionäre sein.

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