Bundeskongress des DGB Die Gewerkschaften vernachlässigen ihr Kerngeschäft

Quelle: imago images

Über dem Bundeskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes schwebt das Gespenst des Bedeutungsverlusts. Die Gewerkschaften müssen sich an das erinnern, was sie einst groß gemacht hat: praktische Solidarität.

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Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) ist ein schrumpfender Riese. Der Bundeskongress, der am Donnerstag endet, wird überschattet von einer Zahl: 5 995 437. Es ist die Summe der Mitglieder aller im DGB vereinten Gewerkschaften im vergangenen Jahr. Weniger als sechs Millionen! So wenige wie zuletzt 1951. Im Jahr 2010 gab es noch fast 200 000 Gewerkschafter mehr. Zur Jahrtausendwende hatte der DGB noch 7 772 795 und unmittelbar nach der Wiedervereinigung 1991 noch 11 800 412 Mitglieder, also fast doppelt so viele wie heute.

Dieser Schwund findet, das macht ihn noch dramatischer, in einem Umfeld der Beschäftigungsrekorde statt. Ein immer größerer Teil der Arbeitnehmer ist ganz offensichtlich von der Nützlichkeit einer Gewerkschaft nicht überzeugt. Im Durchschnitt aller Branchen und Tarifbereiche waren im Jahr 2015 nur 18,9 Prozent der Beschäftigten Mitglied einer Gewerkschaft, wie das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) im vergangenen Jahr berechnet hat. Für den DGB besonders bedenklich: Zuwächse im Organisationsgrad gehen allein auf das Konto des von ihm unabhängigen Zusammenschlusses „DBB Beamtenbund und Tarifunion“, zu dem zum Beispiel auch die schlagkräftige „Gewerkschaft deutscher Lokführer“ (GDL) gehört.

Woran liegt das? In der Sprache der Unternehmensberater könnte man antworten: Weil der DGB sein Kerngeschäft vernachlässigt. Den Beleg dafür liefert DGB-Chef Reiner Hoffmann selbst.

Die erste Meldung, die der mit bescheidenem Ergebnis wiedergewählte und in der breiteren Öffentlichkeit kaum bekannte Hoffmann auf dem Bundeskongress des DGB am Sonntag produzierte, war eine Kampfansage an die AfD. „Wenn wir die Lebensumstände der Menschen verbessern, dann erschweren wir den Rechten und Ewiggestrigen ihr schmutziges Geschäft.“ Darin steckt eine seltsame Selbstverzwergung: Die Beantwortung der sozialen Frage ist also, so muss man ihn verstehen, kein Selbstzweck, sondern vor allem Mittel im „Kampf gegen rechts“.

Im DGB scheint man ähnlich wie in der von einem Wahldesaster zum nächsten stürzenden SPD weiterhin fest entschlossen, die für die eigene Zukunft entscheidenden Fragen zu ignorieren: Könnte es nicht sein, dass die aktuelle Themenschwerpunktsetzung zu einer Entfremdung von der eigenen Klientel führt? Kann der Sinn und Zweck von Gewerkschaften darin bestehen, Tarif- und Arbeitspolitik in den Dienst des „gesellschaftlichen Engagements“ für „Vielfalt“ zu stellen?

Die tieferen Ursachen dieser Entwicklung reichen weit zurück und sind nicht in erster Linie ökonomischer Natur. Die Gewerkschaften des DGB sind in den vergangenen Jahrzehnten zu einer Branche der „neuen Linken“ geworden. Deren Wurzeln sind in der Studentenrevolte von 1968 und dem anschließenden erfolgreichen Kampf von moralisch motivierten Bürgersöhnen und -töchtern um kulturelle Deutungshoheit zu finden. Der brachte zum Beispiel die Vokabel „Vielfalt“ hervor, die heute über dem Rednerpult des DGB-Bundeskongresses thront.

Dagegen ist der Kampf um handfeste materielle Interessen der Arbeitnehmer gegenüber den Arbeitgebern, also der Antagonismus der kapitalistischen Industriegesellschaften, aus dem die Gewerkschaften im 19. Jahrhundert entstanden sind, in der Außendarstellung allmählich in den Hintergrund geraten. Die Gewerkschaften zehren noch vom personellen Kapital dieser alten proletarischen Linken. Doch das schwindet schnell, denn Arbeitnehmer bindet heute immer weniger an eine Linke, die den „kleinen Leuten“ kulturell längst entfremdet ist.

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