Seit Anfang März 2022 ist Klaus Müller, 51, Präsident der Bundesnetzagentur in Bonn. Zuvor war der Grüne oberster Verbraucherschützer, Vorstand und Kopf des Verbraucherzentrale Bundesverbands in Berlin. Müller gilt als Vertrauter von Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck. Ruft der im Rahmen des Notfallplans Gas der Bundesregierung die Notfallstufe aus, wird die Bundesnetzagentur zum Bundeslastverteiler: Müller entscheidet, welche Unternehmen dann noch wie viel Gas beziehen dürfen.
WirtschaftsWoche: Herr Müller, in der Gaskrise sind Sie als Chef der Bundesnetzagentur in den Medien so allgegenwärtig wie wahrscheinlich kein Netzagentur-Chef vor Ihnen. Ihre Botschaft lautet: Sparen, sparen, sparen. Bleibt jetzt nichts mehr anderes übrig?
Klaus Müller: In den vergangenen Wochen hat Gazprom seine Lieferungen über die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 auf 40 Prozent gedrosselt. Ab dem 11. Juli wird die Pipeline planmäßig gewartet. Da fällt der Gasfluss auf null. Und die entscheidende Frage ist: Was passiert danach? Wir arbeiten mit Szenarien. Werden die Lieferungen nach der Wartung wieder fortgesetzt, ist das Ziel, die deutschen Gasspeicher zu füllen, erreichbar. In diesem Szenario sollte man trotzdem sparen – fürs CO2-Budget oder für den eigenen Geldbeutel.
Es kommt noch ein Aber, oder?
Es gibt leider gute Gründe, auch andere Szenarien für möglich zu halten. In Sankt Petersburg hat Wladimir Putin eine Rede gehalten, die es denkbar erscheinen lässt, dass die Lieferung durch Nord Stream 1 nach der Wartung auch bei Null bleiben könnte. Zehn Tage bei null haben wir eingepreist. Aber wenn danach durch Nord Stream 1 kein Gas mehr fließt, kann es im Herbst, im Winter, Anfang des Frühlings in Deutschland eine Gasmangellage geben. Wenn wir die vermeiden wollen, müssen wir etwas tun. Und zwar jetzt. Wir müssen sofort anfangen, Gas zu sparen, nicht erst im Winter.
Auf das Beste hoffen, mit dem Schlimmsten rechnen. Wie groß ist Ihre Angst vor diesem Winter?
Ich bin kein ängstlicher Mensch. Aber aufgrund unserer jüngsten Erfahrungen im Umgang mit Russland wäre es unverantwortlich, davon auszugehen, dass alles von alleine gut wird. Die Wünsche aus der Industrie lauten ganz klar: Der Staat möge die Speicher füllen, so gut es geht. Und die Haltung der Bundesregierung ist da gleichlautend eindeutig.
Tatsächlich? Olaf Scholz, der Kanzler, wollte gerade in einem Fernsehinterview ausdrücklich keine Spartipps geben. Robert Habeck dagegen verrät sogar, dass er ein Kurzduscher ist, um zu zeigen, wie’s geht. Das ist kein Gleichklang.
Die Botschaften besagen alle, dass es der Auftrag der Bundesnetzagentur und aller Verantwortlichen im Gasmarkt ist, die Gasspeicher so gut und so schnell wie es geht zu füllen, sowohl durch zusätzliche Einkäufe wie durch industrieseitige Einsparungen als auch durch Sparen im privaten Bereich.
Sie verfolgen eine Art Shock-and-Awe-Kommunikationsstrategie. Sie beschreiben den schlimmsten Fall, indem Sie davor warnen, dass die Energierechnungen in wenigen Monaten zwei bis drei Mal so hoch ausfallen können wie jetzt. Machen Sie den Leuten so gezielt Angst?
Wie gesagt: Angst ist kein guter Motivator. Aber es ist wichtig, ehrlich und deutlich zu sagen, wie es kommen kann. Gasimporteure müssen am Spotmarkt derzeit extrem hohe Preise bezahlen, weil sie das Gas nicht mehr oder nicht mehr ausreichend aus Russland bekommen. In der Industrie sind diese Preissignale schon angekommen, aber eben noch lange nicht bei den privaten Haushalten. Das bedeutet: Das Wesen einer Marktwirtschaft, nämlich dass hohe Preise eine harte Knappheit signalisieren und ich dann mein Verhalten ändere, das wirkt bisher nicht. Darum meine offene Beschreibung der Situation, verbunden mit der Botschaft: So muss es nicht kommen, weil die Politik mit allen Mitteln die Energiequellen diversifiziert und jede und jeder selbst handeln kann und sollte.
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Sie singen das Hohelied des Preises. Gleichzeitig haben Sie die Preisanpassungsklausel, den berüchtigten Paragraf 24 des Energiesicherungsgesetzes, nicht gezogen. Damit könnten Versorger die Preise kurzfristig durchreichen. Warum schrecken Sie davor zurück?
Es ist richtig, dass wir die Voraussetzung, nämlich eine erhebliche Reduzierung der Gesamtgasimportmengen nach Deutschland, förmlich bislang nicht festgestellt haben. Unabhängig davon ist ja vollkommen klar, dass die Auswirkungen solcher Preisanpassungen erheblich wären. Die hohen Preise, die Energieimporteure heute für einen Teil ihrer Gasimporte zahlen müssen, könnten an private Haushalte und an industrielle Kunden weitergeben werden. Es gibt eine ganze Reihe von Fragen, ob dieser Mechanismus schon vollkommen ausgereift ist und es ist gut, dass in der Bundesregierung darüber im Moment intensiv beraten wird.
Was heißt denn erheblich? Die Reduktion über Nord Stream 1 ist doch erheblich.
Bei Nord Stream 1 sehen wir eine Reduktion auf 40 Prozent, dazu gibt es aber auch Lieferungen aus Norwegen, den Niederlanden und über Belgien. Heißt im Klartext: Wir speichern nach wie vor ein, wenn auch weniger als im Durchschnitt der vergangenen Wochen. Das beobachten wir sehr genau. Vereinzelt gibt es Gasspeicher, die schon jetzt das Zielniveau des Gasspeichergesetzes erfüllen, also Füllstände zwischen 80 und 90 Prozent erreichen. Gleichzeitig gibt es vereinzelte Abflüsse, was uns nicht glücklich macht. Aber unterm Strich bekommen Deutschland und Europa noch genug Gas, sodass wir einspeichern können. Darum wägen wir sehr sorgfältig ab, ob aufgrund dieser Mengenbetrachtung die Gesetzesbestimmung erfüllt ist.
Wie der Staat Uniper retten könnte
Die Rettungsaktion für Uniper könnte dem Beispiel des Falles Lufthansa folgen, die vor zwei Jahren wegen des Geschäftseinbruchs in der Coronapandemie mit öffentlichen Milliardenhilfen vor der Pleite bewahrt werden musste.
Im März 2020 wurde zur Stützung von Unternehmen in der Corona-Krise der Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) aufgelegt. Er konnte mit einer Mittelausstattung von 600 Milliarden Euro verschiedene Instrumente einsetzen: Zur Abwehr akuter Liquiditätsnöte stellte die staatliche Förderbank Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) Darlehen oder Kreditgarantien zur Verfügung.
Die Lufthansa oder der Reisekonzern TUI nutzten vor allem Stille Einlagen des WSF. Das ist eine Form von verzinstem Eigenkapital, bei dem der Geldgeber anders als ein Aktionär kein Stimmrecht hat. Der Zins belief sich bei der Lufthansa eingangs auf vier Prozent und wäre bei langjähriger Nutzung bis 2027 auf 9,5 Prozent gestiegen. Im Fall der Airline beteiligte sich der Staat außerdem direkt über den Erwerb eines Aktienpakets von 20 Prozent. Es machte den Staat zum Hauptaktionär, der zwei Vertreter des Aufsichtsrates stellen durfte.
In der damals regierenden großen Koalition war umstritten, wie viel Einfluss der Staat auf die Lufthansa nehmen sollte. Die SPD wollte über das Aktienpaket Mitsprache und Kontrolle sicherstellen angesichts des hohen Finanzhilfevolumens von bis zu neun Milliarden Euro. Die Unionsparteien CDU/CSU wollten dem Konzern nicht ins Geschäft reinreden und waren daher für Stille Einlagen. Die Lufthansa-Aktionäre mussten den Plan auf einer außerordentlichen Hauptversammlung absegnen.
Da es sich um Staatsbeihilfen handelte, die dem Unternehmen keinen Vorteil gegenüber nicht staatlich gestützten Konkurrenten verschaffen soll, musste die EU-Kommission das Rettungspaket prüfen und genehmigen. Unfaire Vorteile des subventionierten Unternehmens werden über Auflagen unterbunden. So durfte die Lufthansa keine Firmen übernehmen oder Unternehmensteile quer subventionieren, so lange nicht 75 Prozent der Hilfen zurückgezahlt waren. Auch sollen Aktionäre und Manager vom Geld des Steuerzahlers nicht profitieren – deshalb dürfen Dividenden sowie Bonuszahlungen und andere variable Vergütungen erst wieder fließen, wenn das gesamte Rettungspaket zurückgezahlt ist. Die Vergütung der Lufthansa-Vorstände hat sich so mehr als halbiert.
Schon im November 2020 konnte die Lufthansa wieder Mittel privater Geldgeber am Kapitalmarkt aufnehmen und schrittweise die Kredite und Stillen Einlagen tilgen. Der WSF ist derzeit noch mit rund 14 Prozent an der Lufthansa beteiligt. Diesen Anteil muss er bis Oktober 2023 verkaufen.
Die Not der Importeure ist schon jetzt sehr groß. Gazprom Germania, das unter Ihrer Treuhandschaft steht, muss mit Milliarden vom Staat gerettet werden. Uniper, ein zentraler Importeur, hat vergangene Woche eine Gewinnwarnung rausgegeben und auch gesagt: Staat, hilf! Und: Lasst uns die Preise anpassen! Was muss jetzt passieren?
Die Gewinnwarnung von Uniper ist nicht überraschend gekommen. Jeder, der die auseinander klaffenden Preise sieht, versteht: Da existieren vermutlich Altverträge, die Preise von 20 bis 30 Euro für die Megawattstunde vorsehen. Und jetzt liegen die Preise zum Teil bei über 130 Euro. Diese Kluft stellt jedes Unternehmen, das Gas importiert, vor gigantische Probleme. Bei Gazprom Germania, mittlerweile Securing Energy for Europe, hat die Bundesregierung dankenswerterweise unterstützt. Und aus Unipers Mitteilung lese ich die Botschaft: Wir müssen reden. Und jetzt wird es sicher vertrauliche Gespräche zwischen der Bundesregierung und Uniper geben.