Bundesparteitag der Grünen „Wir müssen es so machen, dass es keinen Kulturkampf gibt“

Cem Özdemir war lange Parteivorsitzender der Grünen. Heute sitzt er noch immer für die Grünen im Bundestag und ist dort Chef des Verkehrsausschusses. Quelle: imago images

Der frühere Vorsitzende der Grünen, Cem Özdemir, über abgeschwächte Klimaziele, die Arroganz der Automobilindustrie, verlorene Jahre durch CSU-Minister und die K-Frage in der Ökopartei.

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Die Grünen haben ihren Bundesparteitag zum neuen Grundsatzprogramm im Netz und mit Vorstandsbesetzung in Berlin abgehalten. Özdemir, Chef des Verkehrsausschusses im Bundestag und langjähriger Parteivorsitzender, äußert sich vor dem (digitalen) Bundesparteitag der Grünen zum neuen Parteiprogramm und der Regierungsfähigkeit in Wirtschaftsfragen.


WirtschaftsWoche: Herr Özdemir, die Grünen haben ein neues Grundsatzprogramm. Wieviel ist daran Weltverbesserung und was zeigt, dass die Grünen auch regieren können?
Cem Özdemir: Weltverbessern ist ja nix Schlechtes. Da wäre ich immer dabei…

… aber was überwiegt – Pragmatismus und Lösungswille oder grundsätzliche Kritik an der Gesellschaft?
Wir zeigen in unserem neuen Grundsatzprogramm, wohin sich die Gesellschaft als Ganzes aus unserer Sicht bewegen soll. Und dann schreiben wir noch ein Regierungsprogramm für die Bundestagwahl, das dann konkret macht, wohin es in vier Jahren Regierungszeit mit uns Grünen hingehen könnte.

Machen wir es möglichst konkret: Was bieten die Grünen der Industriegesellschaft an, damit Innovationen leichter werden, Arbeitsplätze bestehen bleiben, aber das Klima geschützt wird?
Wir haben dieses Jahrhundertthema schon vor Jahren auf die Agenda gebracht, es hieß Ökonomie und Ökologie versöhnen. Jetzt zeigen wir, dass Ökologie künftig die Grundlage für jedes Wirtschaften sein muss und die Wirtschaft davon profitieren kann. Der Erfolg jeder Regierung, nicht nur einer mit grüner Beteiligung, wird daran gemessen werden, wie viele Tonnen Kohlendioxid eingespart worden sind. Wir wollen die Industrie in die Zukunft führen, Arbeitsplätze halten und schaffen, aber alles unter der Vorgabe, Klimaschutzziele einzuhalten. Das ist Geschäftsgrundlage für jede kommende Regierung.

Die Ökopartei will demnächst beim Parteitag Regierungstauglichkeit zeigen. Doch bei wichtigen Themen schleppt sie Widersprüche herum.
von Cordula Tutt

Also wollen die Grünen das Wirtschafts- oder gar das Finanzressort?
Der Unterschied zu früher ist dann auch, dass die Grünen nicht mehr allein für Kernbereiche wie Umwelt- und Artenschutz zuständig sind und die anderen immer verhindern, dass hier allzu viel umgebaut wird. Jedes Ministerium muss sich in den Dienst der ökologischen Transformation stellen. Klimaschutz wird eine ressortübergreifende Klammer und da muss jedes Ministerium liefern. Von der Klimaaußenpolitik über den Mobilitätsbereich bis hin zur Finanzpolitik.

Sie wollen konkrete Einsparziele für jedes Ressort, die dann mit Sanktionen belegt sind, wenn etwa der Verkehr oder das Heizen nicht klimafreundlich verändert werden…
Ja. Anders geht es nicht. Die nächste Legislatur wird bockelhart: Nach den Klimazielen von Paris und allen Vorgaben, denen wir uns verpflichtet haben, muss die nächste Bundesregierung doppelt, eher dreimal so viel Treibhausgas einsparen als in jeder Legislatur davor. Nehmen wir meinen Ausschuss: Für jedes verlorene Jahr CSU im Verkehrsministerium, muss die nächste Verkehrsministerin oder der nächste Verkehrsminister dreimal so viel abliefern. Das geht nur mit uns.



Wie sieht dann die deutsche Autoindustrie aus Ihrer Sicht in zehn Jahren aus?
Wir haben hier lange erlebt, dass man den Teslas dieser Welt zu lange mit Arroganz begegnet ist, nur weil in Deutschland technisch hochwertige Autos gebaut werden, Stichwort Spaltmaß der Autotüren und Reichweitenangst gegenüber E-Autos. Da übersieht man schnell, dass die anderen längst ins Morgen investieren. Heute reden wir von Tesla-Jägern, wenn die Automobilwirtschaft nun gottseidank auch Elektrostrategien an den Start bringt. Da war man sich eine Zeit lang zu sicher – und da haben auch die falschen Freunde der Automobilwirtschaft in Union, SPD und FDP ihren Anteil dran. Wer so tut, als könne alles so bleiben wie es war, schadet nicht nur dem Klima, sondern auch den Arbeitsplätzen und dem Wirtschaftsstandort Deutschland. Die Zukunft der Automobilindustrie liegt im digital vernetzten, automatisierten, geteilten und vor allem emissionsfreien Fahren.

Dann kommen die Batterien aus Asien und die Software aus dem Silicon Valley. Was bleibt für die Wertschöpfung und die Industrie in Deutschland?
Wir haben wertvolle Zeit verloren. Nicht Benzin und Diesel, sondern Daten sind der Treibstoff von morgen. Wir müssen das Pooling & Sharing als Geschäftsmodell vorantreiben, also die Bündelung und gemeinsame Nutzung von Ressourcen. Zurzeit steht ein Auto 23 Stunden am Tag und, wenn es fährt, fahren im Schnitt weniger als 1,5 Personen mit. Hier ist viel Potenzial für effizientes Wirtschaften. Der Staat muss den Rahmen für neue Geschäftsmodelle schaffen, damit dieser Schatz gehoben werden kann.
Und weil E-Mobilität auf absehbare Zeit der Antrieb sein wird, dürfen wir den Kampf um die Batterie keineswegs aufgeben. Schließlich entfallen bis zu 40 Prozent der Wertschöpfung bei einem E-Auto auf die Batterie. Zellproduktion bei uns brauchen wir allerdings nicht nur aus ökonomischen Gründen, sondern auch, um hohe Ökostandards sicherzustellen. Hier liegt eine weitere Chance für „Made in Germany“. Überall sehe ich den Staat als Antreiber.

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