Die Aufgabe ist klar: Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland soll seine „ganze Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden“. So lautet der Eid, der in Artikel 56 des Grundgesetzes niedergeschrieben ist – und den der Bundespräsident zum Amtsantritt leistet.
Was sich einfach anhört, scheint eine Herkulesaufgabe zu sein. Nur zwei Bundespräsidenten in der Geschichte des Landes – Theodor Heuss und Richard von Weizsäcker – absolvierten zwei komplette Amtszeiten. Zuletzt sind Horst Köhler und Christian Wulff an der Bürde des Amtes gescheitert. Die Bundesversammlung muss nun zum dritten Mal innerhalb von drei Jahren zusammenkommen, um einen neuen Bundespräsident zu wählen.
Was ist so schwer an dem höchsten Amt im Staate – und welcher Deutsche kann das Amt nun ausfüllen? Sowohl die Affäre Wulff als auch der Rücktritt von Horst Köhler lehren: An das Bundespräsidentenamt werden – zu Recht – hohe Anforderungen gestellt. Ehrlichkeit, Verlässlichkeit und Integrität sind Grundvoraussetzung. Hinzu kommt: Jedes Wort des Präsidenten wird nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern analysiert und bewertet. Horst Köhlers Äußerung, Deutschland verteidige in Afghanistan auch Wirtschaftsinteressen, sorgte für einen Sturm der Entrüstung. Die Kritik konnte oder wollte Köhler nicht aushalten. Verletzt und beleidigt, trat der in der Bevölkerung beliebte Präsident schließlich ab.
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Der neue Präsident braucht Eigenschaften von Wulff und Köhler - aber nicht alle
Bundeskanzlerin Angela Merkel reagierte auf die Dünnhäutigkeit des Ex-Präsidenten und setzte auf den Parteisoldaten Christian Wulff. Dass er Druck aushalten kann, hat er bewiesen. Dass er zwischen Freundschaftsdiensten und Bestechung möglicherweise nicht unterscheiden kann, konnte Merkel damals noch nicht wissen.
Der neue Mann oder die neue Frau an der Spitze des Staates muss mehr denn je unantastbar sein, um den Ruf des Amtes wiederherzustellen. Nähe zur Politik könnte da eher schaden, ein Außenstehender wie Köhler 2004 könnte befreiter ins Amt starten. Anders als Köhler aber muss der neue Präsident Kritik aushalten können und Durchsetzungsvermögen beweisen. So wie Christian Wulff – bis sein Aushalten von Kritik zum ungerechtfertigten Ausharren wurde, das das Amt in seinem Ansehen beschädigte.
Von Weizsäcker und Herzog haben Eindruck hinterlassen
Nachhaltig Eindruck hinterlassen, haben in der zweiten Hälfte der deutschen Nachkriegsgeschichte zwei Bundespräsidenten: Richard von Weizsäcker und Roman Herzog. Sie haben das Ansehen Deutschlands gemehrt, trotz oder gerade wegen ihres einzigen großen Machtinstrumentes: der Sprache.
Richard von Weizsäcker punktete bereits ein Jahr nach Amtsantritt, als er 1985 die Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 umdeutete, vom „Tag der Niederlage“ zum „Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“. Er mahnte in seiner Rede zur Wiedervereinigung: „Sich zu vereinen, heißt teilen lernen“.
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Ehrlichkeit und Bescheidenheit
Eine visionäre und unpopuläre Aussage. Von Weizsäcker ging es nicht um Ruhm oder Anerkennung – gerade das machte ihn stark. Er kritisierte, die Parteien, da sie nur an die nächste Wahl denken würde, nicht aber daran, die Probleme des Landes zu lösen.
Chronologie: Wulffs Affären
Christian Wulff, damals Ministerpräsident von Niedersachsen, bekommt von der Unternehmergattin Edith Geerkens einen Privatkredit über 500.000 Euro zum Kauf eines Hauses in Burgwedel bei Hannover.
Die Grünen im niedersächsischen Landtag wollen vom damaligen Ministerpräsidenten Wulff unter anderem wissen, welche Spenden beziehungsweise Sponsoringleistungen er oder die CDU in den vergangenen zehn Jahren vom Unternehmer Egon Geerkens erhalten haben und ob es geschäftliche Beziehungen zu Geerkens gab. Wulff verneint dies.
Die im Dezember 2009 aufgenommenen Gespräche mit der Stuttgarter BW-Bank führen zur Unterzeichnung eines kurzfristigen günstigen Geldmarktdarlehens, mit dem Wulff das Geerkens-Darlehen ablöst. Der Zinssatz beträgt 2,1 Prozent. Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ vermutet Ende 2011 einen Zusammenhang zwischen dem sehr günstigen Darlehen und dem Einsatz Wulffs als niedersächsischer Ministerpräsident für den Einstieg des VW-Konzerns bei Porsche.
Der Bundesgerichtshof (BGH) entscheidet, dass Journalisten das Grundbuch von Wulffs Haus einsehen dürfen, wenn dies für eine journalistische Recherche erforderlich ist. Mehrere Medien recherchieren zu dem Fall.
Bundespräsident Wulff besucht die Golfregion und versucht Medienberichten zufolge, den „Bild“-Chefredakteur Kai Dieckmann zu erreichen, um auf die anstehende Berichterstattung über seinen Privatkredit Einfluss zu nehmen. Er spricht Diekmann auf die Mailbox und droht den „endgültigen Bruch“ mit dem Springer-Verlag für den Fall an, dass diese „unglaubliche“ Geschichte tatsächlich erscheine.
Die „Bild“-Zeitung berichtet erstmals über das Darlehen und fragt, ob Wulff das Landesparlament getäuscht habe. Sein Sprecher Olaf Glaeseker teilt mit, Wulff habe die damalige Anfrage korrekt beantwortet. Es habe keine geschäftlichen Beziehungen zu Egon Geerkens gegeben und gebe sie nicht.
Der Bundespräsident bedauert in einer schriftlichen Mitteilung, den Kredit von Edith Geerkens vor dem niedersächsischen Landtag nicht erwähnt zu haben. Zudem teilt er mit, er habe das Geldmarktdarlehen in ein langfristiges Bankdarlehen umgewandelt und er wolle Einsicht in Vertragsunterlagen gewähren.
„Der Spiegel“ berichtet, dass offenbar doch Egon Geerkens der Kreditgeber war. „Ich habe mit Wulff verhandelt“ und „Ich habe mir überlegt, wie das Geschäft abgewickelt werden könnte“, zitiert das Nachrichtenmagazin den Unternehmer.
Nach Medienberichten soll der mit Wulff befreundete Unternehmer und AWD-Gründer Carsten Maschmeyer im Wahlkampf 2007 eine Anzeigenkampagne für ein Interviewbuch bezahlt haben. Wulff erklärt, er wisse nichts von die Finanzierung.
Sechs Tage nach dieser Erklärung unterschreibt Wulff den Vertrag zur Umwandlung seines Darlehens. Das Dokument war nach Angaben der BW-Bank am 12. Dezember an Wulff geschickt worden.
Wulff tritt erstmals persönlich in der Affäre an die Öffentlichkeit und entschuldigt sich für seinen Umgang mit den Vorwürfen. Er bekräftigt jedoch, im Amt bleiben zu wollen. „Ich habe zu keinem Zeitpunkt in einem meiner öffentlichen Ämter jemandem einen unberechtigten Vorteil gewährt“, versichert das Staatsoberhaupt. Kurz vor seiner Erklärung im Schloss Bellevue entlässt Wulff seinen langjährigen Sprecher Olaf Glaeseker ohne Angabe von Gründen.
Der Deutsche Journalistenverband (DJV) kritisiert den angeblichen Versuch Wulffs, Einfluss auf die Berichterstattung der „Bild“-Zeitung zu nehmen. Zuvor hatten Medien erstmals über den Anruf Wulffs vom 12. Dezember 2011 bei Diekmann berichtet. (Quelle: dapd, dpa)
Der Bundespräsident bricht sein Schweigen. In einem Fernseh-Interview zur besten Sendezeit beantwortet Christian Wulff Fragen zur Kredit-Affäre. Im Gespräch mit ARD und ZDF räumte Wulff ein, dass der Drohanruf bei „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann „ein schwerer Fehler“ gewesen sei, der mit seinem eigenen Amtsverständnis nicht vereinbar sei. Der Fehler tue ihm leid und er habe sich auch entschuldigt. Zugleich betonte Wulff, er wolle nicht Präsident in einem Land sein, in dem man sich kein Geld von Freunden leihen könne. Ungeachtet des anhaltenden Drucks in der Kredit- und Medienaffäre machte der Bundespräsident in dem Interview auch klar, dass er nicht zurücktreten wolle. „Ich nehme meine Verantwortung gerne wahr“, sagte Wulff. Mit Blick auf das Darlehen der BW Bank sagte er, es handele sich um normale und übliche Konditionen. Das gesamte Risiko der Zinsentwicklung liege bei ihm, so Wulff. Er habe keine Vorteile genossen, es handele sich um ein Angebot wie für andere auch.
Der Bundespräsident bleibt auch nach seinem TV-Auftritt unter Druck. Die Opposition hält Wulffs Erklärungen für unzureichend, die „Bild“-Zeitung widerspricht zentralen Aussagen und einer Umfrage zufolge verliert Wulff in der Bevölkerung an Unterstützung.
Wulff war in dem Fernseh-Interview gefragt worden, ob es nicht für einen Bundespräsidenten tabu sein müsse, unliebsame Berichterstattung verhindern zu wollen. „Ich habe nicht versucht, sie zu verhindern. Ich habe darum gebeten, einen Tag abzuwarten“, sagte er dazu. Nikolaus Blome, Leiter des Hauptstadt-Büros der „Bild“-Zeitung, reagiert: „Das haben wir damals deutlich anders wahrgenommen. Es war ein Anruf, der ganz klar das Ziel hatte, diese Berichterstattung zu unterbinden.“
Im Auftrag Wullfs stellt sein Anwalt nun doch Journalisten-Anfragen und Antworten auf knapp 240 Seiten online.
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart sieht keine Anhaltspunkte gegen Wulff wegen seines Hauskredites bei der BW-Bank zu ermitteln.
Die Staatsanwaltschaft durchsucht das Haus und Büro von Wulffs Ex-Sprecher Olaf Glaeseker und die Räumlichkeiten des Eventmanagers Manfred Schmidt. Ermittelt wird wegen Korruptionsverdacht. Glaeseker soll die private Lobby-Veranstaltung Nord-Süd-Dialog „gefällig gefördert“ haben.
Medien berichten, dass das Landwirtschaftsministerium Bücher im Wert von 3 400 Euro sponserte, die auf dem Nord-Süd-Dialog verschenkt wurden. Die Co-Autorin des Buches ist Olaf Glaesekers Frau.
Auch die NordLB, die zu mehr als 50 Prozent dem Land gehört, habe den Nord-Süd-Dialog 2007 und 2009 finanziell unterstützt, berichtet
„Zeit Online“.
Die Bild-Zeitung berichtet, dass der Filmunternehmer David Groenewold für Wullf und seine spätere Frau Bettina einen Urlaub auf Sylt gebucht und bezahlt habe. Wulffs Anwalt erklärt, der damalige Ministerpräsident habe die Kosten später in bar beglichen habe. Groenewold soll vor drei Wochen das Sylter Hotel angerufen und zum Stillschweigen verpflichtet haben. Im gleichen Jahr gab das Land Niedersachsen dem Filmunternehmen eine Bürgschaftszusage.
Wullfs Anwalt lehnt die Veröffentlichung der 400 Journalisten-Fragen und die Antworten darauf aufgrund der „anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht“ ab. Eine Veröffentlichung würde das Recht der Journalisten auf das eigene Wort und den Schutz ihrer Recherchen verletzen, so der Anwalt.
Die Staatsanwaltschaft Hannover beantragt beim Bundestag die Aufhebung der Immunität des Bundespräsidenten. Es bestehe ein Anfangsverdacht auf Vorteilsannahme und Vorteilsgewährung, so die Staatsanwaltschaft. Der Bundestag entscheidet nun, ob gegen Wulff strafrechtlich ermittelt wird.
Wulff soll als Ministerpräsident Kontakte zu dem Filmfonds-Manager David Groenewold gehabt haben. Auch gegen Groenewold wird ermittelt. Der Antrag zur Aufhebung der Immunität gegen einen Bundespräsidenten ist einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik.
Christian Wulff tritt mit sofortiger Wirkung vom Amt des Bundespräsidenten zurück.
Auch Roman Herzog nahm kein Blatt vor den Mund. In seiner Ruck-Rede sprach er den Deutschen ins Gewissen: In Deutschland „herrscht ganz überwiegend Mutlosigkeit, Krisenszenarien werden gepflegt. Ein Gefühl der Lähmung liegt über unserer Gesellschaft“, so Herzog am 26. April 1997.
Doch wer der gehandelten Kandidaten kann frei von politischen Zwängen sprechen, kann Mutiges und Visionäres aussprechen und Themen setzen? Verteidigungsminister Thomas de Maiziére, die Hochschulprofessorin Gesine Schwan oder doch Arbeitsministerin Ursula von der Leyen?
Edle Eigenschaften und Mehrheitsfähigkeit
Vielleicht ja auch Margot Käßmann, die Theologin und ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland. Sie steht für einen Dialog mit dem Islam und kritisierte offen den Bundeswehreinsatz in Afghanistan. „Nichts ist gut in Afghanistan. All diese Strategien, sie haben uns lange darüber hinweggetäuscht, dass Soldaten nun einmal Waffen benutzen und eben auch Zivilisten getötet werden“, sagte Käßmann. Und weiter: „Aber Waffen schaffen offensichtlich auch keinen Frieden in Afghanistan. Wir brauchen mehr Fantasie für den Frieden, für ganz andere Formen, Konflikte zu bewältigen.“
Doch: Der Bundespräsident muss nicht nur kritikfähig, standhaft und mutig sein – sondern auch mehrheitsfähig in der Bundesversammlung. Dort ist der Stimmenvorsprung der Regierungsparteien denkbar knapp. Merkel braucht entweder einen Kandidaten, auf den sich etwa auch die SPD einlassen kann – oder jemanden, der alle Stimmen aus der Regierung bekommen kann. Margot Käßmann passt nicht in dieses Anforderungsprofil
Bildergalerie: Affären um das höchste Amt im Staate
Die schwierige Suche entflechten könnte eine Änderung des Grundgesetzes, um so den Weg für eine Direktwahl des Bundespräsidenten durch den Bürger freizumachen. Bei einer Umfrage des Instituts für neue soziale Antworten (Insa) ermittelten die Meinungsforscher von YouGov im Januar, dass 83 Prozent der Bürger für solch eine Direktwahl sind.
Eine Option für die Zukunft wäre die Wahl durch das Volk
Insa-Chef Hermann Binkert schlussfolgerte laut „Focus“: „Bundestag und Bundesrat sollten den Weg freimachen, dass der nächste Bundespräsident vom Volk direkt gewählt werden kann. Eine Direktwahl stärkt das Amt und schafft wieder Vertrauen.“
Bis zur Wahl des Wulff-Nachfolgers ist das aber noch keine Option. So müssen Merkel & Co weitersuchen, nach dem Kandidaten, der die besten Eigenschaften von Horst Köhler, Roman Herzog, Richard von Weizsäcker und Christian Wulff vereint.