Offen bleibt, wer oder was die Großkoalitionäre aus der Berliner Manege wieder zurück ins Leben holt. Die Rückkehr der Euro-Krise? Ein konjunktureller Einbruch? Eine Zinserhöhung der EZB? Oder doch schon die humorlose SPD-Basis? Dass die große Koalition bei Regierungsantritt – zumal im europäischen Vergleich – das wirtschaftlich gesündeste anzunehmende Deutschland vorfindet und ganz ohne Not einem unkalkulierbaren Belastungstest unterzieht, wird sich schon bald als ihre schwerste Hypothek erweisen.
Tatsächlich reicht die Gültigkeit des stolz präsentierten Koalitionsvertrags nicht weiter als bis zur nächsten Steuerschätzung. Alles, was die drei Parteichefs an Mehrausgaben beschlossen haben, basiert auf der ziemlich kühnen Annahme, dass Bund, Länder und Gemeinden auch künftig Einnahmerekorde vermelden – eine Annahme, die umso optimistischer ist, je weniger so manche Beschlüsse der großen Koalition (Teilzeit, Mindestlohn) zu der Hoffnung Anlass geben, sie könnten die Wirtschaft stimulieren.
Teuer, unsinnig und moralisch vergiftet
Das Thema Steuererhöhung ist daher so wenig vom Tisch wie das Thema Neuverschuldung, im Gegenteil: Nicht ob die Koalition in den nächsten vier Jahren vor einer Zerreißprobe steht, ist die Frage, sondern nur wann. Ein anderes Beispiel: der Mindestlohn. 8,50 Euro mit Ausnahmen für Auszubildende und Praktikanten, teils schrittweise eingeführt bis 2017 – das hört sich zunächst einmal fast vernünftig, jedenfalls recht maßvoll an. Aber was, wenn zwischenzeitlich die Konjunktur lahmt, die Unternehmen entlassen, die Nachfrage wegbricht? Will die Union dann allen Ernstes an einem Plan festhalten, der mutmaßlich die Arbeitslosigkeit fördert und Jugendlichen ohne Ausbildung vor allem in ostdeutschen Bundesländern keine Chance lässt – nur weil sie sich der SPD gegenüber auf die Einhaltung eines solchen Plans verpflichtet hat?
An Stellen wie diesen reißt im Koalitionsvertrag der entscheidende Unterschied zwischen den Herzensanliegen auf, die sich die Lebensabschnittspartner großmütig erfüllt haben: Während die Wünsche der Union bloß teuer (Mütterrente) und unsinnig (Maut) sind, sind die der SPD auch moralisch vergiftet. Ihnen liegt die vollkommen irrige Annahme zugrunde, Fortschritt, Wachstum, das Wohl der Menschen und die soziale Gerechtigkeit ließen sich mit politischer Herbeiplanung unbedingt besser befördern als ohne. Statt die komplexe Wirklichkeit sich möglichst differenziert und ergebnisoffen vollziehen zu lassen, sie schiedsrichterlich zu beobachten und behutsam korrigierend zu begleiten, neigt die SPD (noch immer) dazu, das Gutgemeinte in eine unvorhersehbare Zukunft hinein gesetzgeberisch festnageln zu müssen – koste es, was es wolle.
Merkel navigiert am liebsten ohne Kompass
Während die Merkel-Union das Prinzip der schmerzlindernden Nachsorge verfeinert, indem sie zum Beispiel laufend ihre Energie- und Europapolitik revidiert, berichtigt, verbessert und innenpolitisch den ein oder anderen Missstand am Arbeitsmarkt behebt, ist die Gabriel-SPD vom Prinzip Vorsorge durchdrungen, will ständig beschützen, bewahren und eingreifen, will die Rechte von Arbeitnehmern und Niedriglöhnern retten, Frauen, Kinder und Arme in Obhut nehmen.
Welchen Politikstil die Deutschen bevorzugen, darüber haben sie am 22. September abgestimmt: Merkels Palliativpolitik für alle qualifiziert die CDU zur großen Volkspartei – Gabriels Präventivpolitik für jeden Einzelnen die SPD zu Merkels Juniorpartner. Allein: Eine rahmensetzende Ordnungspolitik, die am ehesten helfen könnte, das vollmundige Versprechen des Koalitionsvertrags („Deutschlands Zukunft gestalten“) einzulösen, ist weder von Union noch SPD zu erwarten. Merkel navigiert am liebsten ohne Kompass auf offener See. Während Gabriel gern mit Sozialweltkarte und Gerechtigkeitssextant über Gewerkschaftskanäle schippert. Und Seehofer? Nun, der ist, was er ist: der größte anzunehmende Freistaatskapitän, der stets verlässlich hart am Wind segelt.