Bundestag Die Bürgerlichen sind zu Außenseitern geworden

Fast zehn Prozent liberale und konservative Wähler sind künftig nicht im Bundestag repräsentiert. Das liegt nicht nur an der Fünf-Prozent-Hürde. Freiheit und Marktwirtschaft haben keine Konjunktur.

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Das Wahlergebnis war nciht nur für Guido Westerwelle ein Schock. Ein großer Teil der Wähler wird in den kommenden Jahren nicht an der Regierung beteiligt sein Quelle: dpa

Das Desaster endete in Tränen. Mit feuchten Augen saß Außenminister Guido Westerwelle, umringt von politischen Freunden, am Abend des Wahlsonntags bei seinem Lieblingsgriechen Cassambalis. Erschöpfung und Enttäuschung ließen den Körper des FDP-Wahlsiegers von 2009 rebellieren. Die jahrelang antrainierte Selbstbeherrschung war ebenso dahin wie Ansehen, Amt und Anspruch.

Das Ende der FDP-Regierungsbeteiligung? Klar. Der Tod der FDP? Vielleicht. Der Untergang des Liberalismus in Deutschland? Wohl kaum.

"Das Potenzial liberal denkender Menschen reicht nach wie vor drei Mal, um über die Fünf-Prozent-Hürde zu kommen", sagt Klaus-Peter Schöppner, Geschäftsführer von TNS Emnid und einer von Deutschlands erfahrensten Meinungsforschern. Bei der FDP fühlten sie sich jedoch nicht mehr gut aufgehoben, ein Gutteil aber auch bei keiner anderen Partei. Die Abwanderer zu den Nichtwählern – 460 000 Stimmen – hätten locker gereicht, den Sprung ins Parlament zu schaffen. "Aber liberal denkende Bürger sind mit Blick auf den Deutschen Bundestag derzeit heimatlos."

Ähnlich geht es konservativen Wählern, die von der Union enttäuscht Hoffnungen auf die Alternative für Deutschland (AfD) gesetzt hatten. Sie scheiterte ebenso knapp wie die FDP an der Fünf-Prozent-Hürde.

Nicht halbinteressierte Mitläufer oder zufällige Gelegenheitswähler finden sich plötzlich in der außerparlamentarischen Opposition (Apo) wieder, sondern Staatsbürger, die die Stimmabgabe als erste Pflicht des Citoyen sehen, teilweise hoch engagierte Eliten.

Für Demoskopen wie Demokraten stellt sich die Frage, ob die Umkehrung des Say’schen Theorems auch in der Politik gilt: Jede Nachfrage schafft sich ihr Angebot.

Das Problem beider Parteien, die nun das Heer der Apo-Truppen anführen: Die Werte in der Gesellschaft haben sich verschoben. Nur noch sieben Prozent der Wähler in Deutschland sehen sich selbst als "rechts" eingestellt. Vor 20 Jahren war dieser Anteil noch fast drei Mal so groß. Umgekehrt wuchs das Lager der "Linken" von 23 auf 37 Prozent. Insofern folgten die Unions-Parteien mit ihrer gewandelten Ausrichtung dem Meinungstrend. Enttäuscht zurück bleiben die vertriebenen Konservativen.

Ganz ähnlich ist die Lage auf dem freiheitlichen Flügel. "Früher war die Diktion von Freiheit positiv", weiß Stimmungssucher Schöppner. "Das ist heute anders." Einst verbanden auch die Deutschen mit Freiheit vor allem Chancen, Möglichkeiten, mit einem Hauch amerikanischer Tellerwäscherkarriere. Heute, nach den Stürmen der Finanz-, Wirtschafts- und Euro-Krise, dominiert die Unsicherheit. "Der Begriff ,Freiheit‘ ist in der Krise verbrannt worden", hat der Demoskop ermittelt. Ökonomischer Aufschwung wird nicht mehr als Synonym für eigenes Wohlergehen gesehen. Das alte Mantra Ludwig Erhards, wonach es dem Einzelnen gut gehe, wenn nur die Unternehmen florierten, erscheint vielen unglaubwürdig. Freiheit gilt nun als Bedrohung, die Bevölkerung verlangt nach Schutz und staatlicher Fürsorge. 84 Prozent der Befragten erwarten, dass der Staat die wirtschaftliche Kluft zwischen Arm und Reich im Lande verringert. 91 Prozent sähen gern einen Mindestlohn (auch 84 Prozent der Wähler von CDU und CSU).

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