Die Union hat die Bundestagswahl gewonnen. CDU und CSU blieben nach Hochrechnungen von ARD und ZDF trotz deutlicher Verluste stärkste Kraft vor der SPD, die ihr schlechtestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl einfuhr. Dritte Kraft wurde die rechtspopulistische AfD, die mit einem zweistelligen Resultat erstmals in den Bundestag einzieht. Die FDP schaffte nach vierjähriger Abstinenz klar den Einzug in das Parlament. Sowohl die Linkspartei als auch die Grünen konnten sich gegenüber 2013 leicht verbessern.
Auch an den Börsen werden die Ergebnisse genau beobachtet. Die ersten Reaktionen von Analysten im Überblick:
CLEMENS FUEST, PRÄSIDENT DES IFO-INSTITUTS:
"Das Wahlergebnis zeigt, dass Einkommensungleichheit oder mangelnde Gerechtigkeit von der Bevölkerung nicht als Hauptproblem der deutschen Politik angesehen wird. Probleme wie die Innere Sicherheit und Immigration und die Sicherung des wirtschaftlichen Wohlstands waren offenbar wichtiger. Eine Jamaika-Koalition wäre die angemessene Antwort auf diese Wahl. Die neue Regierung sollte Bildung und Forschung, die Digitalisierung und Globalisierung der Wirtschaft, die Energie- und Klimapolitik und die europäische Integration in den Mittelpunkt stellen. Die FDP hat sich klar gegen eine Transferunion in der Euro-Zone ausgesprochen, die Grünen eher dafür. Diese Differenzen in der Wirtschaftspolitik sind aber überbrückbar."
MARTIN MORYSON, CHEFVOLKSWIRT SAL. OPPENHEIM:
"Merkels Position wird aus drei Gründen geschwächt: Erstens hat sie ein per se schlechteres Wahlergebnis, zweitens hat sie es künftig mit zwei schwierigen Koalitionspartnern zu tun – und nicht mehr wie in der Vergangenheit mit nur einem, mit dem zumindest sie sich meist weitgehend einig war. Und drittens schwächt sie das sehr starke Abschneiden der AfD.
Trotz der ganzen Turbulenzen, die das Wahlergebnis und die schwierigen Koalitionsverhandlungen nach sich ziehen werden, bleibt zu hoffen, dass die Koalitionsregierung es schafft, die wichtigen Zukunftsfragen beherzt anzugehen. Bei dem aus wirtschaftlicher Sicht bedeutungsvollsten Thema "Zukunft der Europäischen (Währungs-)Union" liegen die Haltungen der Grünen und der FDP weit auseinander. Sollte Deutschland nicht mit einer klaren Agenda auftreten, könnte das die nächsten Schritte, die unternommen werden müssen, um die EWU krisenfester zu machen, deutlich verlangsamen. Allerdings werden die zentralen Konflikte zwischen FDP und Grünen vermutlich auf Feldern wie Zuwanderung oder Steuerpolitik ausgetragen.
Dass sich fast jeder siebte Wähler für die AfD entschieden hat und mehr als jeder vierte radikal wählt, ist für das stabilitätsorientierte Deutschland ein schlechtes Zeichen. Deutschland erschien immer noch als Fels in der Brandung des Populismus. Dieser Fels hat nun deutliche Risse bekommen."
Die zehn wichtigsten wirtschaftspolitischen Forderungen der AfD
Die Mehrwertsteuer soll um sieben Prozent gesenkt werden. So will die AfD vor allem Geringverdiener entlasten.
Es soll eine Abgabenbremse für Steuern, Beiträge und Gebühren eingeführt und im Grundgesetz festgeschrieben werden. Die Obergrenze soll bei der heutigen Abgabenquote liegen und mittelfristig auf 40 Prozent des Bruttoinlandsproduktes fallen.
Die Erbschaftsteuer soll als Substanzsteuer abgeschafft, die Vermögensteuer nicht wieder eingeführt werden.
Die AfD befürwortet den gesetzlichen Mindestlohn. Zu dessen Höhe äußert sie sich im Wahlprogramm nicht.
Unternehmen sollen höchstens 15 Prozent ihrer Beschäftigten mit Leih- oder Werkverträgen beschäftigen dürfen.
Es soll Bürgerarbeit eingeführt werden. Langzeitarbeitslose sollen bis zu 30 Stunden pro Woche gemeinnützige Arbeit verrichten und dafür sozialversicherungspflichtig entlohnt werden.
Nach 45 Arbeitsjahren sollen die Bürger eine abschlagsfreie Rente zugesprochen bekommen. Bei der Berechnung der Rente sollen Beitragszeiten in dem Maß berücksichtigt werden, in dem sie erbracht wurden.
Rentner, die weiterhin arbeiten wollen, sollen ihren Lohn ohne Einschränkung der Rentenbezüge behalten dürfen. Die Einkommen sollen von den Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen zur Rentenversicherung freigestellt werden.
Die AfD will die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes erhöhen. Wer länger eingezahlt hat, soll auch länger Arbeitslosengeld erhalten – und erst später auf Hartz IV zurückfallen.
Der Arbeitgeberanteil zur Kranken- und Pflegeversicherung soll auf die gleiche Höhe wie der Arbeitnehmeranteil festgelegt werden.
HOLGER SCHMIEDUNG, CHEFVOLKSWIRT BERENBERG BANK:
"Die wirtschaftlichen Auswirkungen sind nahezu null. Die Schnittmengen einer Jamaika-Koalition sind nicht so weit von dem entfernt, was wir bisher hatten. Insgesamt gibt es größere Chancen auf Steuersenkungen und eine Rentenpolitik, die nicht ganz so teuer ist, wie sie es mit der SPD geworden wäre.
In der Europapolitik erwarte ich eine gewisse Lernphase der FDP. Sie muss sich nach ihrer Zeit in der außerparlamentarischen Opposition hier neu finden. Das Ergebnis wird nah an dem liegen, was Merkel ohnehin vorhat. Jamaika wird Herrn Macron in Frankreich nicht scheitern lassen. Sollte die FDP das Finanzministerium übernehmen, würde ein FDP-Finanzminister nicht wesentlich von dem abweichen, was Schäuble in Europa für Positionen vertritt. Ich glaube, dass sich in der Europapolitik nichts Wesentliches ändern wird."
Was passiert, wenn ...
In Deutschland gilt, dass Abgeordnete gewählt werden, nicht Parteien. Die Abgeordneten können selbstständig handeln und für sich entscheiden, ob sie Mitglied einer Fraktion sein wollen oder nicht. Falls nicht, gelten sie als fraktionslos. Das verlorene Fraktionsmitglied kann nur ersetzt werden, wenn ein anderer Abgeordneter in die Fraktion hinein wechseln will. Solche Wechsel können das Mehrheitsverhältnis im Parlament beeinflussen.
Fraktionslose Politiker haben weniger Rechte. Sie können keine Gesetzesinitiativen starten oder beim Ältestenrat Plenardebatten beantragen. Ausschüssen können sie zwar als beratende Mitglieder mit Rede- und Antragsrecht angehören, dürfen aber nicht abstimmen. Auch das Rederecht im Plenum ist begrenzt.
Erst wenn einzelne Abgeordnete eine Gruppe im Bundestag bilden, haben sie in den Ausschüssen volles Stimmrecht. Fraktionsstatus erhält eine Partei aber erst, wenn sie über mindestens fünf Prozent der Sitze verfügt.
Dann sind sie automatisch kein Mitglied der Fraktion ihrer ehemaligen Partei mehr. Der Abgeordnete, der seine Partei verlässt, bleibt aber weiterhin Mitglied des Bundestages. Er ist parteilos und fraktionslos. Der frei gewordene Platz in seiner Partei wird aber nicht ersetzt, die Partei hat nach dem Austritt eines Abgeordneten einen Platz weniger. Der Grund: In Deutschland werden Abgeordnete gewählt, nicht Parteien. Das gilt auch für Listenmandate.
Ministerposten werden vom Bundeskanzler vorgeschlagen. Um vorgeschlagen zu werden, müssen Kandidaten nicht einmal Mitglied des Bundestages sein oder einer Partei angehören. Theoretisch könnte also jeder als Minister vorgeschlagen werden, wenn der Bundeskanzler ihn als qualifiziert erachtet.
Dem steht nichts im Wege. Wenn sich fünf Prozent (entspricht circa 32 Personen) der Bundestagsabgeordneten einer neuen Partei anschließen, dürfen diese auch während einer laufenden Legislaturperiode eine Fraktion bilden. Dabei ist irrelevant, ob diese neue Partei bei der Bundestagswahl zur Wahl stand.
THOMAS GITZEL, CHEFVOLKSWIRT VP BANK:
"Das eigentliche Erdbeben ist: Die SPD möchte in die Opposition. Was bleibt, ist eine Jamaika-Koalition aus CDU, FDP und Grünen. Dreierbündnisse sind schwierig zu bilden und nicht selten instabil. Das muss zwar für eine Jamaika-Koalition per se nicht gelten, doch an den Finanzmärkten könnte es zur Furcht eines politisch nicht mehr ganz so stabilen Deutschlands kommen. Der Euro muss möglicherweise mit Abschlägen rechnen.
Die Regierungsbildung wird wohl zu einem zähen Ringen. Mit einer Jamaika-Koalition kann es auch für Europa unter Umständen steiniger werden. Die FDP steht zwar für eine starke EU, doch einer weiteren Integration wird man bei den Liberalen keinen Freifahrschein ausstellen. Der französische Präsident Emmanuel Macron wünscht sich hingegen ein vertieftes Europa - möglicherweise bläst ihm nun zumindest sanfter Gegenwind aus Deutschland entgegen. Für die Börsen ist der Ausgang der Wahl kein erfreulicher, da es wider Erwarten zu politischen Unsicherheiten kommt. Die politische Agenda eines Dreierbündnisses ist noch völlig unklar. Zu Wochenbeginn dürfte es turbulenter an den europäischen Finanzmärkten zugehen."
"Wir erwarten nach dem Wahlausgang wenig Aufregung an den Märkten"
OTMAR LANG, TARGOBANK-CHEFVOLKSWIRT:
Der Dax wird aufgrund dieses Wahlergebnisses sicher keine Freudensprünge machen, aber er wird auch nicht in die Knie gehen. Die Märkte werden derzeit von anderen Faktoren getrieben als von der deutschen Innenpolitik. Viel relevanter sind die Krise in Nordkorea, die Politik der Notenbanken und die Konjunkturentwicklung in Deutschland und Europa. Und da stehen die Zeichen gut, was etwa die unerwartet positiven Einkaufsmanager-Indikatoren der letzten Woche wieder bewiesen haben."
JÖRG KRÄMER, COMMERZBANK-CHEFVOLKSWIRT:
"Die SPD hat eine große Koalition ausgeschlossen. Nun wird erst einmal über eine Jamaika-Koalition verhandelt. Ob sie kommt, wird man sehen. Kommt sie, kann ich mir nicht vorstellen, dass die FDP eine Europa-Politik mitmacht, die stark auf den französischen Präsidenten Macron zugeht. Eine Bundesregierung mit FDP-Beteiligung wird eine Aufwertung des ESM-Rettungsfonds zu einem Europäischen Währungsfonds nur schwer mitmachen.
Beim Thema Verbrennungsmotor haben zwar alle Parteien unterschiedliche Positionen formuliert, doch könnte es zu einem Kompromiss kommen - mehr Regulierung bei gleichzeitig stärkerer Förderung der Elektro-Mobilität. Auch dürften Steuersenkungen kommen, denn auch die Grünen wollen diese. Da wird man sich einigen können. Eine Bürgerversicherung dürfte dagegen am Widerstand des bürgerlichen Lagers scheitern.
Der große Knackpunkt für eine Jamaika-Koalition ist die Einwanderungspolitik. Hier stehen Grüne und CSU - bildlich gesprochen - auf zwei verschiedenen Planeten."
THOMAS ALTMANN, PORTFOLIOMANAGER QC PARTNERS:
"Unabhängig von der Zusammensetzung der Koalition werden mit Angela Merkel und Wolfgang Schäuble auf jeden Fall zwei erfahrene Hauptakteure aus der Euro-Krise auch der neuen Regierung angehören. Diese Konstanz sollte die europäischen Partner ein Stück weit beruhigen. Auch wenn bei Wolfgang Schäuble noch nicht feststeht, welchen Posten er im neuen Kabinett einnehmen wird.
Eine Regierung, in der die Union und die FDP beteiligt sind, wird die Bürger mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit steuerlich entlasten. Im Fall einer großen Koalition ist ebenfalls mit Erleichterungen zu rechnen; lediglich die Top-Verdiener dürfen sich hier nicht ganz so sicher sein. Die deutsche Wirtschaft könnte hier von einem Anstieg des privaten Konsums profitieren, die Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum dürften sich jedoch in engen Grenzen halten.
Fazit: Entscheidend für die Bildung einer neuen Regierung dürften die Verhandlungsergebnisse in der Europapolitik werden. Von daher werden nicht nur die Regierungen der südeuropäischen Euro-Staaten die Koalitionsverhandlungen genau verfolgen, sondern auch alle, die in Staatsanleihen dieser Länder investiert sind. Spannend wird, wie die Börsen in Mailand, Madrid, Lissabon oder Athen morgen auf das starke FDP-Ergebnis reagieren. Die Reaktion an den Börsen der südeuropäischen Staaten wird deutlich spannender als die Reaktion an der Frankfurter Börse. Wirtschaftlich dürfte die Frage nach der neuen Koalition für viele südeuropäische Staaten mehr Bedeutung haben als für Deutschland selbst."
UWE BURKERT, LBBW-CHEFVOLKSWIRT:
"Das Ergebnis lässt wohl nur die Möglichkeit einer Wiederauflage der schwarz-roten Koalition oder eine schwarz-gelb-grüne Koalition zu. So oder so werden die Verhandlungen einige Zeit beanspruchen. Wir vermuten, dass ernsthafte Gespräche mit der SPD nicht vor den Landtagswahlen in Niedersachsen am 15. Oktober beginnen. Das Risiko ist, dass eine Blockadepolitik auch von den Wählern in Niedersachsen gegebenenfalls mit Stimmenentzug bestraft werden könnte.
Wir erwarten nach dem Wahlausgang wenig Aufregung an den Märkten. Allerdings könnte mittel- bis langfristig der Trend relativ zum Rest Europas von der neuen Koalition beeinflusst werden. Junckers Rede zur Lage der Union am 13. September und Macrons Ankündigung einer Grundsatzrede zur Europapolitik für den 26. September zeigen, dass sich die Hauptakteure in Stellung bringen. Deutschland dürfte aber mit der erfahrenen Kanzlerin Merkel in dieser Hinsicht gut aufgestellt sein. Die Positionen der Parteien machen zudem deutlich, dass in einer Koalition mit der SPD ein Europäischer Währungsfonds wahrscheinlicher ist als in einer Koalition mit der FDP."