




Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat in den ersten sechs Tagen nach der Wahl unendlich viel mehr verloren als am Abend des 24. September: ihre Führungsrolle in der Union und Europa. Dass die Christdemokraten mit 32,9 Prozent der Wählerstimmen so schlecht abgeschnitten haben wie nie seit 1949, gerät angesichts der aufreizenden Nonchalance, mit der Merkel sich weigert, das Debakel zur Kenntnis zu nehmen, fast schon zu einer Nebensache.
Sie sei „nicht enttäuscht“, sagt die Regierungschefin, nimmt ein Ergebnis wahr, „auf dem sich aufbauen lässt“ - und kann im Übrigen „nicht sehen, was wir anders machen sollten“. Ihr Wille zur Selbstblindheit ist beinah’ schon unverschämt ignorant.
Die zerquälte Hybris, mit der Merkel ihre entschiedene Unentschiedenheit zur Staatsräson erklärt und das Land auf ein „Weiter irgendwie mit mir an der Spitze“ verpflichten will, lähmt und polarisiert das Land zugleich.
Die politische Demobilisierung der Kanzlerin hat sich gegen die eigene Partei und das Politische selbst gewendet: Die Union hat keine Ziele und keine Projekte, sie kann sich nicht mit der SPD vermählen, dann eben mit der FDP und den Grünen - nicht nur viele Deutsche sind das Übermaß an hohlem Regierungswillen leid, sondern auch viele Mandats- und Funktionsträger in der Union. Merkel hat, helmutkohlsatt und selbstzufrieden, den Spätherbst ihrer Karriere erreicht - und die nächsten (vier?) Jahre sind nichts anderes als der Count-Down zu ihrer Entmachtung.
Der Grund dafür ist einfach: Merkels Opportunismus ist zwar nicht böse, also egoistisch und auf den persönlichen Vorteil bedacht. Aber er hat auch nichts von der Schlauheit, mit dem etwa ein kluger Unternehmer seine Chance ergreift. Statt dessen ist Merkel auf ganz volksmundartliche Art und Weise opportunistisch: Es sind die „Gelegenheiten“, die sie zur Diebin alles Politischen werden lassen.
Ob es Ausstieg aus der Kernenergie oder Mindestlohn ist, die „Ehe für alle“ oder die Distanznahme von einer notorisch innovationsfaulen Automobilindustrie: Merkel räumt ab, was der Demoskopie zufolge abzuräumen ist - das ist alles. Bestenfalls.





Denn schlimmstenfalls, wenn sich politische Lagen zuspitzen, moralisiert sie ihr reaktives Handeln - um es der politischen Kritik zu entziehen. Das war beim Thema Griechenland der Fall, als sie die Metapher „Europa“ positivierte, um sich in den Regierungsfraktionen jede Mäkelei an der verheerenden Geldpolitik der EZB, an Rettungsschirmen und Hilfspaketen zu verbitten.
Und das war erst recht so im Falle der Flüchtlingspolitik, als Merkel die Grenzöffnung zum „humanitären Imperativ“ erklärte: Das Aufstellen eines moralischen Gebots, dem Merkel vorher nicht gerecht geworden war und schon bald auch nicht mehr gerecht werden wollte, zielte auf die moralische Disqualifikation Andersdenkender - auf die Spaltung der Deutschen: „Man musste sich entscheiden, zwischen Gut und Böse, zwischen Moral und Amoral“, schreibt der grüne Tübinger Bürgermeister Boris Palmer: „zwischen Merkels Deutschland und dem Land, das nicht mehr ihres sein sollte.“