Tauchsieder

Merkels Nachspielzeit hat begonnen

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Nun also Jamaika

Nun also Jamaika, und das heißt: noch mehr Spaltung zwischen Zufriedenen und Unzufriedenen - für Merkel ist es beinah’ ein Glück: Keine andere Konstellation gibt ihr mehr Gelegenheit, ihre (Nicht-)Politik in einem günstigen Licht erscheinen zu lassen. Digitalisierung und Bildungsrepublik Deutschland, das Ende der fossilen Zeitalters und die Zukunft der E-Mobilität, die Harmonisierung von Ökonomie und Ökologie zum Zwecke der Erhaltung von Wohlstand und Schöpfung…, das alles klingt nicht hässlich nach Sachsen, Pegida, Asylkompromiss, Ungleichheit, Wohnungsmangel, Pflegenotstand und Langzeitarbeitslosigkeit, sondern nach Fortschritt, Aufbruch und Zukunft in einem Land, in dem wir gut und gerne leben - nach Baden-Württemberg für alle. 

Und gerade deshalb nach einem Revitalisierungsprogramm für eine scheintote Sozialdemokratie? Vielleicht ist die Schwarmintelligenz der Wähler doch größer als angenommen. Vielleicht steckt in Deutschland ja doch mehr Hegel und Dialektik als vermutet. Vielleicht ist das Wahlergebnis der Auftakt zu einem zweiten Frühling der Demokratie im Nachwendedeutschland.

Denn natürlich hat Martin Schulz, all seinem kleinkindischen Sandkastengrimm zum Trotz, am Wahlabend alles richtig gemacht, als er die SPD wutwild entschlossen auf die Oppositionsrolle verpflichtete. Die staatstragenden Belehrungen von FDP-Chef Christian Lindner und Grünen-Chef Cem Özdemir, „keine demokratische Partei“ dürfe sich von vornherein „ihrer Verantwortung“ entziehen, grenzen ans Lächerliche. Wie wohl hätten die beiden reagiert, wenn Schulz nach dem Desaster ungerührt für die Fortsetzung der großen Koaliton und für die schnelle Aufnahme von Sondierungssgesprächen plädiert hätte - und wenn er sich - ganz so wie Merkel - nicht eingestehen würde, „was wir anders machen sollten“. 

Nein, eine staatsräsonale SPD, die viele ihrer Ziele als Juniorpartner der Union in zweimal vier Regierungsjahren durchgesetzt hat und exakt dafür zweimal vom Wähler abgestraft wurde, ist nicht nur zur Opposition berechtigt, sondern verpflichtet. Übrigens auch mit Blick auf die Tatsache, dass andernfalls die AfD als größte Oppositionspartei im Parlament das Recht auf ersten Widerspruch genießen würde.

Mit Blick auf die politische Kultur könnte das Wahlergebnis also gar nicht mal so schlecht sein: Es bereitet langsam den Abschied von Angela Merkel vor und lässt auf eine Revitalisierung des politischen Raums jenseits von „Alternativlosigkeiten“ hoffen. Dafür wird zunächst einmal die AfD sorgen, der das nunja: Verdienst zukommt, das Land sich selbst ein wenig durchsichtiger zu machen - auch wenn das Gesamtbild dadurch nicht günstiger ausfällt. Dafür wird auch die FDP sorgen, weil sie an der Seite von Merkel rhetorisch immer mal wieder in Opposition zu sich selbst wird gehen müssen, um als Mitregierungspartei nicht wie schon 2009 bis 2013 an Glaubwürdigkeit zu verlieren. 

Und natürlich können dafür vor allem SPD und Linke sorgen, wenn sie in die offenen Flanken einer Jamaika-Koalition vorstoßen, bei der weder „der Osten“ noch „das Soziale“ im Vordergrund stehen. Martin Schulz, Andrea Nahles und Sahra Wagenknecht haben die doppelte (und einmalige) Chance, ihre teilweise zur AfD abgewanderte Kernklientel mit einer positiv populistischen Politik für den „kleinen Mann“ zurückzugewinnen - und den Deutschen die Angst vor einer „Rotfront“ zu nehmen.

Allein für die Grünen sieht’s derzeit gar nicht günstig aus. Sie sind in einer Koalition mit CSU und FDP von der Protektion der Kanzlerin abhängig. Und sie drohen, an Merkels Seite, in den nächsten vier Jahren unterzugehen.

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