Tauchsieder

Schafft die Wahlumfragen ab!

Die Medien degradieren sich zum Assistenzsystem der Demoskopie - und reproduzieren eine Stimmungslage, die unempfindlich ist für die Spannung(en) in diesem Wahlkampf, für das Brodeln im Biedermeier.

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Die Spitzenkandidaten der Parteien zur Bundestagswahl 2017
Angela Merkel Quelle: REUTERS
Martin Schulz Quelle: AP
Joachim Herrmann Quelle: dpa
Christian Lindner Quelle: REUTERS
Katrin Göring-Eckardt Quelle: dpa
Cem Özdemir Quelle: dpa
Alice Weidel Quelle: dpa

Stellen wir uns für einen Moment vor, es hätte in den vergangenen fünf Wochen keine demoskopischen Wasserstandsmeldungen gegeben, keine laufend eintröpfelnden „Sonntagsfragen“: Wie spannend könnte dieser Wahlkampf sein! Und wie anders würden die Deutschen ihre Politiker in den Duellen und Wahlarenen beurteilen, in Klartextmanegen und Intensivrunden wahrnehmen! 

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zum Beispiel. Hätte sie das Aufeinandertreffen mit ihrem Herausforderer Martin Schulz (SPD) am Fernsehsonntag vor zwei Wochen tatsächlich „gewonnen“, wie es später recht einhellig hieß - wenn uns Umfrageinstitute nicht vorher weisgemacht hätten, sie liege uneinholbare 14 Prozentpunkte vor dem Kontrahenten?

Gewiss nicht. Wenn Historiker sich das Filmdokument in zehn Jahren noch einmal anschauen, werden sie feststellen, dass Merkel kaum einen geraden Aussagesatz hinbekommen, sich jedenfalls beharrlich im weiten Feld des Ungefähren aufgehalten hat. Und dass Schulz zwar spürbar nervös war, ein merkwürdiges Zitat ausstellte und sein Schlussgedicht wie ein überforderter Pennäler aufsagte - ansonsten aber viel klarere Worte als Merkel fand.

Bloß interessiert hat es keinen. Wichtig war nicht, ob Schulz auf manche Fragen konkrete Antworten wusste oder vielleicht sogar ein paar bessere Argumente auf seiner Seite hatte, sondern dass er „das Ruder nicht herumreißen“, „den Rückstand nicht verringern“ konnte - so jedenfalls teilten es uns die Wahlforscher, nur wenige Sekunden nach dem kanzleramtlichen Schlusswort, auf Basis einer „Blitzumfrage“ mit. 

Mit dem gleichsam notariellen Urteil der Demoskopen war der Abend vor aller weiteren Diskussion erledigt: Die Zahl schlug das Wort, die Statistik den Grund - Ende der Debatte. Dass es hier nicht um ein Pferderennen und eine Siegwette, sondern um Politik und die Zukunft des Landes ging, spielte für die öffentlich-rechtlichen Sender (die mit dem „Bildungsauftrag“) erwartungsgemäß keine Rolle. 

Bedenklicher als diese ernüchternde Bestandsaufnahme ist, dass auch viele andere Medien nicht mehr die Kraft aufbringen, über die Rolle eines Assistenzsystems der Demoskopie hinaus zu wachsen: Die „vierte Gewalt“ agiert als Resonanzverstärker von "infratest dimap" und Echokammer der „Forschungsgruppe Wahlen“. Anders jedenfalls ist die prozyklische Begleitung einer demoskopisch ermittelten Stimmung nicht zu erklären: Die Zahlen ergeben, dass Schulz keine Chance hat, also hat Schulz nur die Chance, sich den Zahlen zu ergeben.

In einer solchen Situation ist für Schulz nichts mehr zu gewinnen: Findet er sich mit seiner Niederlage ab, spricht er sein politisches Todesurteil. Tut er es nicht, stempelt er sich zum Fantasten: Lächerlich, dieser Kerl - träumt immer noch vom Kanzleramt. Was Medien und Demoskopen auf diese Weise seit Wochen im Parallelschritt reproduzieren, ist eine sich selbst verstärkende Stimmungsschleife - die Evozierung eines Ergebnisses, das den Gehalt der Prophezeiungen rückwirkend beweisen wird: Die prognostizierte Niederlage der SPD wird umso wahrscheinlicher, je öfter die prognostizierte Niederlage prognostiziert wird. 

Es geht um den wettbewerbsverzerrenden Sog, den Meinungsumfragen erzeugen

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Es geht hier nicht um Merkel oder Schulz. Sondern um den wettbewerbsverzerrenden Sog, den Medienstimmungen und Meinungsumfragen, die sich permanent ineinander spiegeln, in den letzten sechs Wochen vor der Wahl erzeugen. Norbert Röttgen, nur zum Beispiel, einer der klügsten Köpfe in der deutschen Politik, ist vor fünf Jahren als Spitzenkandidat der CDU in NRW in einen solchen Umfrage-Stimmungs-Sog geraten - und hat sich bis heute nicht davon erholt.

Es wäre für die politische Kultur in diesem Land viel gewonnen, wenn man sich darauf einigen könnte: Sechs Wochen vor der Wahl sind Umfragen tabu. Wir leben in einer Schaufenster-, sprich: Fernsehdemokratie, und viele Wähler - nicht nur die beiläufig Interessierten - entscheiden sich in diesen Tagen während unzähliger Sendungen in ARD und ZDF für die eine oder andere Partei. Das aber sollten sie so „frei und unabhängig“ von taktischen Erwägungen tun können wie möglich. Nach Überzeugungen, nicht nach Siegchancen. Nach Argumenten, nicht nach Stimmungslagen.

Zumal es mit der „Neutralität“ und „Unabhängigkeit“ der Umfrageinstitute nicht weit her ist, im Gegenteil: Insbesondere Forsa und INSA verstehen ihre leicht nuancierten „Werte“ stets auch als Botschaften, als politisch ausbeutbare Zahlen. Als etwa INSA die Grünen vergangene Woche auf sechs Prozent fallen sah, versuchten konservative Medienaktivisten, die sich für keine Blödheit zu schade sind, die Aktie Özdemir gleich unter die Fünf-Prozent-Marke zu prügeln. 

Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass die Demoskopen, wieder einmal, am 24. September die größte Niederlage einfahren - weil sie ihrer eigenen Erzählung von einem „müden Wahlkampf“ mit recht „stabilen Umfragewerten“ auf den Leim gehen. Die Wahrheit ist: Die Demoskopie ist erschreckend unempfindlich für alles Brodeln im Biedermeier - und für die Spannung(en) in diesem Wahlkampf. Die Union kann bei 40 oder 30 landen, die SPD bei 26 Prozent oder 18, die AfD bei sechs oder 13 - genauso wie Linke, Grüne, FDP.

Nach dem 24. September wird daher nicht nur über die prozyklischen Wirkungen von Umfragen zu reden sein (in Bezug auf Merkel und Schulz), sondern auch von der unbotmäßigen Bevorzugung der beiden so genannten Volksparteien. Anders als in den USA, Großbritannien oder in Frankreich wählen die Deutschen in einer Woche ein Parlament und keinen Regierungschef. 

Trotzdem gibt es derzeit viele lange Abende, die die Fernsehdeutschen mit Merkel und Schulz, mit Ministern und Parlamentariern der Union und der SPD verbringen können - und vergleichsweise wenige mit Vertretern der vier „kleineren Parteien“, mit Linken, Grünen, Liberalen und Rechten. Das ist nicht nur fragwürdig, weil die repräsentative Demokratie in Deutschland im besonderen Maße von der politischen Vernehmbarkeit mehrerer Parteien abhängt (in Koalition wie Opposition).

Sondern das ist auch komisch, weil es ausgerechnet im Falle des mediendemoskopisch prophezeiten Ergebnisses - die Union gewinnt - nicht auf die Kanzlerpartei, wohl aber auf alle anderen ankommt: Das Entscheidende ist nicht, ob Merkel regiert, sondern mit wem sie regiert. Ob Merkel in den nächsten vier Jahren eine leicht rote, leicht gelbe oder leicht grüne Politik macht.

Allein ihr selbst wird es, so viel steht immerhin fest, ziemlich egal sein.

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