Bundestagswahlkampf „Ich schaue mit Entsetzen auf die grüne Kampagne“

Quelle: IMAGO, Werner Schüring. Montage: WirtschaftsWoche

Niemand in Deutschland hat so viele Wahlkampagnen entworfen wie Frank Stauss. Der Politikberater über Annalena Baerbocks Drang zur Überhöhung, Armin Laschets bequemen Schlafwagen zur Macht – und die Gewichte um den Hals von Olaf Scholz.

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Frank Stauss nennt sich einen „Wahlkampfbesessenen“. Die Regale in seinem Agenturbüro in Berlin-Mitte stehen voller Kampagnen-Andenken, bevorzugt amerikanischen. Vor ein paar Jahren hat Stauss sein Glaubensbekenntnis in einem Buch zusammengefasst: „Höllenritt Wahlkampf“. Eine Anleitung und zugleich Liebeserklärung an das Werben um Wähler, voller Leidenschaft und Wucht, schonungslos, direkt, außerdem herrlich parteiisch und selbstironisch. Ein typischer Stauss-Satz lautet: Politische Werbung fände er deshalb am spannendsten, „weil man am Ende so schonungslos offen sieht, ob sie funktioniert hat“.

Als die SPD im vergangenen Sommer Olaf Scholz als Kanzlerkandidat nominierte, hätten viele in der Hauptstadt ihr Geld auf Stauss als Chef-Wahlkämpfer gesetzt. Die zwei Bürgermeister-Kampagnen in Hamburg bilden für ihn bis heute eine Mischung aus handwerklicher Perfektion und professioneller Erfüllung. 

Es kam dann anders. 2021 wird der Bundestagswahlkampf also ohne Stauss-Slogans stattfinden. „Zuschauen“, sagt er beim Gespräch, „kann sehr schmerzhaft sein.“ Aber, wie sich dann zeigen wird, auch sehr unterhaltsam.

WirtschaftsWoche: Herr Stauss, Sie haben im Gespräch mit der WirtschaftsWoche einmal eine sehr hübsche Weisung für Wahlkämpfer formuliert: „Sei ein Leuchtturm, keine Kerze.“ Was ist Annalena Baerbock gerade?
Frank Stauss: Ein Irrlicht. Ich schaue tatsächlich mit einem gehörigen handwerklichen Entsetzen auf die grüne Kampagne.

Sie gehörten zu einem Team, das nach der Bundestagswahl 2017 die Niederlage der SPD aufgearbeitet hat, und zwar einigermaßen schonungslos. Haben Sie ein Deja-vu?
Das kann man so sagen. Und das Bittere ist: Unsere Studie liegt ja nicht im Giftschrank, jeder kann sie runterladen. Einige Fehler hätten die Grünen also vermeiden können, besser gesagt: müssen.

Als da wären?
Es war seit mindestens einem Jahr klar, dass es Baerbock oder Robert Habeck werden würden. Zeit genug, um offene Flanken bei beiden zu schließen. Das ist eigentlich Wahlkampfstandard, kein Hexenwerk. Es zwingt einen auch keiner, ein Buch zu schreiben. Meines Wissens hat Angela Merkel bis heute keines verfasst.

Wie erklären Sie sich die mittlerweile ziemlich zahlreichen Patzer der Baerbock-Kampagne?
Um es ganz klar zu sagen: Baerbock fehlt die biografische Qualifikation fürs Kanzleramt. Sie hatte nie ein exekutives Amt inne. Sie wäre die erste Kanzlerin der Bundesrepublik, bei der das Fall wäre. Und daraus erwuchs wohl eine Art Drang zur Überhöhung dessen, was ist. So entsteht ein zweifelhaftes Buch, so werden Positionen des Lebenslaufes unnötig aufgeladen.

Und nun?
Ist alles bedroht, was ihre Kandidatur ausgezeichnet hätte: das Frische, das Unverbrauchte, das Bild einer lauteren, dynamischen Frau. Es gibt einen immensen Schaden für ihre Glaubwürdigkeit.

Können sich die Grünen-Kampagne und die Spitzenkandidatin selbst davon erholen?
Das wird sehr schwer, aber unmöglich ist es nicht. Ich bin überzeugt, dass die Wahl erst in den letzten vier Wochen entschieden wird. Denn zur Wahrheit gehört auch: Euphorie löst nun wirklich keiner der Kanzlerkandidaten aus.

Muss Baerbock mehr aushalten als ihre männliche Konkurrenz?
Da sollte man trennen: Es gibt in sozialen Medien Angriffe auf sie, die einfach widerwärtig und indiskutabel sind. Aber in der zivilen öffentlich-medialen Arena haben alle etwas auszuhalten. Die Grünen durchlaufen jetzt die weinerliche Phase, die etwa auch SPD-Kandidat Martin Schulz 2017 erlebt hat. Sie sehen sich bereits gezwungen, ihre Basis als Bürgerwehr um die eigene Kandidatin zu mobilisieren. Dabei lauern die größten Feinde nicht da draußen. Die größten Feinde sind die eigenen Fehler.

Was würden Sie raten, wenn die grüne Wahlkampfzentrale Sie um Hilfe fragte?
Die Kandidatin zwei Wochen aus dem Spiel nehmen, keine neue Nahrung liefern, sich sammeln. Baerbock muss aus dem Trommelfeuer raus.

Zumal – wie Sie schon sagten – die Konkurrenz nicht gerade übermächtig wirkt.
Korrekt. Armin Laschet ist weder unschlagbar noch unfehlbar. Und an Olaf Scholz hängen die schlechten Kompetenzwerte der Partei wie ein Mühlstein.

Stand heute wird trotzdem Laschet ohne große Anstrengung Kanzler.
Die Union musste sich schon immer anstrengen, um eine Bundestagswahl zu verlieren. Und heute sind die progressiven Parteien auch noch zersplittert. Derzeit machen CDU/CSU wieder das, was sie am besten können: für die Macht zusammenhalten. Das ist zwar alles furchtbar dröge, aber für die Nummer 1 reicht es – wenn auch auf niedrigem Niveau.

Im Schlafwagen zur Macht – das ist ein beliebter Vorwurf. Aber ist er zutreffend?
Nein. Warum sollte ich noch reingrätschen, wenn sich die Konkurrenz schon so beherzt die Beine weghaut? Da wäre auch mein Rat: zuschauen und stillhalten.

Jetzt wäre es aber doch schön, wenn Sie wenigstens ein bisschen Spannung für den September aufbauen könnten.
Hatte ich das nicht schon? Viele werden sich erst im September entscheiden. Wähler sind extrem wechselhaft geworden. Es gibt keine Amtsinhaberin, es gibt keinen natürlichen Favoriten. Alle Kanzlerkandidaten und die Kandidatin haben ihr Päckchen zu tragen. Bisher aber fehlt etwas Disruptives. Es mangelt an großen Themen, auch weil Covid medial alles erschlägt.



Wir müssen noch über Olaf Scholz sprechen, für den Sie in Hamburg zwei sehr erfolgreiche Wahlkampagnen aufgesetzt haben, von denen Sie bis heute schwärmen. Auch er hat so ein bestimmendes Thema bisher nicht setzen können. Warum kommt er nicht voran?
Das Traurige aus SPD-Sicht ist ja: sie stagniert, obwohl sich die Konkurrenz nach Kräften blamiert hat in den vergangenen Monaten. Scholz selbst rangiert durchaus im oberen Mittelfeld, aber die Partei frisst das bisher auf, weil man ihr im Bund keine Zukunftskompetenz zutraut. Aber er selbst konnte bisher auch keine Aufbruchstimmung verbreiten.

Keine Hoffnung nirgends?
Doch. Er wird respektiert und anerkannt, ist ohne Zweifel am besten qualifiziert für den Job. Das kann sich am Ende auszahlen, wenn Laschet noch einen Hänger bekommt. Und wenn die SPD einen Funken Freude und Zuversicht in der Kampagne entfacht.

Und so lange hofft man im Willy-Brandt-Haus unverdrossen auf eine Ampel-Koalition unter Scholz.
Dafür müsste die SPD die Grünen überholen – was machbar ist –, gleichzeitig dürfen diese wiederum nicht komplett abstürzen. Und dann braucht es ja noch die FDP. In der Tat wäre das eine Erzählung, die diesen Wahlkampf von Grund auf verändern könnte: wenn alle drei Parteien jeweils für sich das Signal setzen, dass sich in diesem Land nur ohne die Union etwas ändern wird. Beim Klimaschutz, bei der Rente, auch bei Steuerlast und Digitalisierung.

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Kommt noch ein „Aber“?
Es müsste sich quasi um eine konzertierte Aktion handeln. Dafür fehlt mir vor allem bei Herrn Lindner die Fantasie.

Mehr zum Thema: In ihrem Buch will sich Baerbock als Vordenkerin profilieren – jetzt muss sie sich allerdings gegen Plagiatsvorwürfe wehren. Ihre Kampagne gerät immer mehr aus dem Tritt. Ein Kommentar.

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