




Die CDU war in ihrer bald siebzigjährigen Geschichte nie eine Partei der Theoretiker. Das passte den meisten Deutschen auch ganz gut, weil ihnen nach dem Albtraum der Nazi-Herrschaft und des Krieges die Lust auf politische Wunschträume und Ideologien vergangen war. „Keine Experimente“ war in den 1950er Jahren keineswegs eine denkfaule Haltung, sondern Ausdruck historischer Erfahrung. Erst musste Deutschland wieder zu Kräften kommen. Aber geistlos war die CDU der ersten Jahre und Jahrzehnte durchaus nicht. Sie hatte immerhin ein paar praktische Denker und denkerische Praktiker in ihren Reihen. Alfred Müller-Armack, der Soziologe und Schöpfer des Begriffs der „sozialen Marktwirtschaft“, Rüdiger Altmann, der Carl-Schmitt-Schüler, und nicht zuletzt auch Ludwig Ehrhard, dessen Gedanken über das bevorstehende Ende der Wachstumswirtschaft in den 1960er Jahren der Wiederentdeckung harren.
Die intellektuell wohl lebendigste Phase der CDU waren die ersten Jahre nach dem Machtverlust in den frühen 1970ern. Ein Höhepunkt des parteiinternen Diskurses war der Hamburger Parteitag 1973. Delegierte von damals erinnern sich an lebhafte, offene und argumentativ geführte Diskussionen, die sogar die linke „Zeit“ begeisterten. Heraus kam zum Beispiel ein „Vermögenspolitisches Grundsatzprogramm“, das heute durchaus wieder lesenswert wäre.
Helmut Kohl war sich damals der Notwendigkeit einer Beziehung zu den denkenden Menschen im Lande bewusst. 1973 veröffentlichte er als frisch gewählter Parteivorsitzender einen viel beachteten Essay in der „Zeit“: „Für einen produktiven Konflikt. Die Intellektuellen und die CDU“. Er stellte sich und seinen Parteifreunden darin die fordernde Frage: „Welches geistige Profil müsste sich die CDU geben, um ein aktiver und interessanter Gesprächspartner für die Intellektuellen zu sein?“ Vielleicht tat der zwar in Geschichte promovierte aber vom akademischen Milieu größtenteils verachtete Kohl nur so, als ob ihn der denkerische Diskurs wirklich interessiere. Aber immerhin wusste er als Machtmensch, dass „ihr Verhältnis zu den Intellektuellen eine Existenzfrage für die CDU“ sei. Ein fruchtbarer Diskurs ist in jeder Partei die Quelle, aus der sie die Überzeugungskraft schöpft, um Wahlen zu gewinnen.
Nach seiner Machtübernahme 1982 aber machte Kohl kaum noch solche Avancen. Das intellektuelle Elend begann. Seine groß angekündigte „geistig-moralische Wende“, die bei konservativen Professoren und Publizisten und bei allen Gegnern von „68“ manche Hoffnung geweckt hatte, entpuppte sich ganz schnell als Sprechblase, von der seither allenfalls noch hämisch gesprochen wurde. Die einzige wirkliche geistig-moralische Bewegung trug eine andere Partei in die Gesellschaft: die Grünen. Zu Recht wird ihr Einzug in den Bundestag vor ziemlich genau 30 Jahren heute als historisch bedeutsamer betrachtet als Kohls gleichzeitiger Wahlsieg.
Statt der Denker wie Kurt Biedenkopf und dann Heiner Geißler, die den programmatischen Diskurs in der Union befeuerten, wurden die Einpeitscher zu Generalsekretären. Der bisherige Tiefpunkt dieses Niedergangs ist Ronald Pofallas Grundsatzprogramm von 2007.
In der Kohl-Zeit ragten in den Unionsparteien immerhin noch Männer wie Franz-Josef Strauß und Alfred Dregger aus der Uniformität des Kanzlerwahlvereins hervor. Keine theoretischen Denker, aber unbeugsame Köpfe voller politischer Leidenschaft, die keiner Grundsatzdebatte aus dem Weg gingen. Undenkbar, dass in der heutigen Union jemand sagte: "Die Demokratisierung der Gesellschaft ist der Beginn der Anarchie, das Ende der wahren Demokratie“ (Strauß). Undenkbar, dass heute noch ein CDU-Abgeordneter einen Aufsatz über das „Dilemma der Frontsoldaten“ schriebe, wie es Dregger 1995 tat.