
Der Streit in der CDU um die so genannte Homo-Ehe nimmt kein Ende. Mittlerweile haben sich die meisten Parteigranden zu Wort gemeldet. Aber was haben sie gesagt? Warum nur kann man sich an kein einziges Argument erinnern? Weil es keines gab.
Die einzige Sorge des stellvertretenden CDU-Vorsitzenden Thomas Strobl ist, wie er der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung sagte, dass „wir nicht im Sommer eiskalt erwischt werden.“ Der Eindruck, den die CDU macht, wenn sie auf ein Urteil des Verfassungsgerichts reagieren muss. Darum geht’s in dieser Nicht-Diskussion. Was aus der Jahrtausende alten Institution der Ehe wird, scheint die Christdemokraten nicht mehr wirklich zu interessieren.
Und das ist – egal wie man nun persönlich zur Homo-Ehe steht – das Deprimierende an dem Schauspiel: Niemand in den Unionsparteien war bisher willens oder in der Lage, über das Thema Homo-Ehe öffentlich nachzudenken, das Für und Wider der steuerlichen oder adoptionsrechtlichen Gleichstellung durchdringend zu reflektieren. Ursula von der Leyen kam einem Argument noch am nächsten mit ihrer fragwürdigen Behauptung, es gebe „keine Forschung“, die zeige, "dass Kinder bei gleichgeschlechtlichen Paaren weniger behütet aufwachsen." Aber das war es auch schon. Alle anderen Beiträge begnügten sich mit Politphrasen wie Wolfgang Schäubles „veränderten Realitäten“ und Strobls „gesellschaftlicher Wirklichkeit“.
Mehr oder weniger laut nachgedacht wird nur über die Folgen dieser oder jener Entscheidung für die Wahlergebnisse der eigenen Partei. „Auf Sicht fahren“, nennt man das im parteipolitischen Betrieb. Nach dem Motto: Debatten mögen andere führen, du, glückliche Union, regiere!
Es gibt keinen intellektuell geführten Diskurs in der Union. Immer wenn es um grundlegende Fragen geht, immer wenn es eigentlich angebracht wäre, ein politisches Problem einmal zu durchdringen und nach grundsätzlichen Antworten zu suchen, herrscht bei der Union das Schweigen im Walde. Da setzt der Bundestag eine Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ ein, die für eine der zentralen sozialen und ökonomischen Fragen, nämlich die nach der Bedeutung von Wachstum für unsere Gesellschaft, grundlegende Impulse geben soll, und den CDU-Abgeordneten fällt nichts, aber auch gar nichts dazu ein außer altbackenen Weisheiten aus dem VWL-Lehrbuch.
Da verkündet die Bundesregierung unter Federführung des CDU-Bundesinnenministers eine „Demografiestrategie“, in der fast jedes Politikfeld irgendwie vorkommt, nur die grundlegende Zukunftsfrage selbst, nämlich die nach den Gründen für den anhaltenden Geburtenrückgang so gut wie gar nicht berührt wird. Aus Kreisen der Unionsfraktion heißt es, dass Gedanken über die tieferen Ursachen der Babyflaute und Möglichkeiten zur Erhöhung der Geburtenrate unter den Abgeordneten nicht einmal ansatzweise diskutiert wurden. „Das war einfach nicht möglich“, sagt ein Beteiligter.
Die Kanzlerin selbst ist in ihrem Desinteresse an allen Fragen, die über das politische Tagesgeschäft hinausgehen, vermutlich unübertreffbar. „Erschreckend“ sei ein Besuch im Kanzleramt gewesen, berichtete der mittlerweile verstorbene Regisseur Christof Schlingensief in einem Interview. „Da sitzen ihr Henning Mankell und Tilda Swinton beim Kaffeetrinken gegenüber, und sie stellt keine Fragen. Da wird nur gefragt, ob man noch ein Stückchen Kuchen möchte.“
Unter Merkel hat diese Verweigerungshaltung der Union gegen das grundsätzliche Denken und den intellektuellen Diskurs extreme Ausmaße angenommen. Aber sie begann nicht mit ihr.
Das intellektuelle Elend





Die CDU war in ihrer bald siebzigjährigen Geschichte nie eine Partei der Theoretiker. Das passte den meisten Deutschen auch ganz gut, weil ihnen nach dem Albtraum der Nazi-Herrschaft und des Krieges die Lust auf politische Wunschträume und Ideologien vergangen war. „Keine Experimente“ war in den 1950er Jahren keineswegs eine denkfaule Haltung, sondern Ausdruck historischer Erfahrung. Erst musste Deutschland wieder zu Kräften kommen. Aber geistlos war die CDU der ersten Jahre und Jahrzehnte durchaus nicht. Sie hatte immerhin ein paar praktische Denker und denkerische Praktiker in ihren Reihen. Alfred Müller-Armack, der Soziologe und Schöpfer des Begriffs der „sozialen Marktwirtschaft“, Rüdiger Altmann, der Carl-Schmitt-Schüler, und nicht zuletzt auch Ludwig Ehrhard, dessen Gedanken über das bevorstehende Ende der Wachstumswirtschaft in den 1960er Jahren der Wiederentdeckung harren.
Die intellektuell wohl lebendigste Phase der CDU waren die ersten Jahre nach dem Machtverlust in den frühen 1970ern. Ein Höhepunkt des parteiinternen Diskurses war der Hamburger Parteitag 1973. Delegierte von damals erinnern sich an lebhafte, offene und argumentativ geführte Diskussionen, die sogar die linke „Zeit“ begeisterten. Heraus kam zum Beispiel ein „Vermögenspolitisches Grundsatzprogramm“, das heute durchaus wieder lesenswert wäre.
Helmut Kohl war sich damals der Notwendigkeit einer Beziehung zu den denkenden Menschen im Lande bewusst. 1973 veröffentlichte er als frisch gewählter Parteivorsitzender einen viel beachteten Essay in der „Zeit“: „Für einen produktiven Konflikt. Die Intellektuellen und die CDU“. Er stellte sich und seinen Parteifreunden darin die fordernde Frage: „Welches geistige Profil müsste sich die CDU geben, um ein aktiver und interessanter Gesprächspartner für die Intellektuellen zu sein?“ Vielleicht tat der zwar in Geschichte promovierte aber vom akademischen Milieu größtenteils verachtete Kohl nur so, als ob ihn der denkerische Diskurs wirklich interessiere. Aber immerhin wusste er als Machtmensch, dass „ihr Verhältnis zu den Intellektuellen eine Existenzfrage für die CDU“ sei. Ein fruchtbarer Diskurs ist in jeder Partei die Quelle, aus der sie die Überzeugungskraft schöpft, um Wahlen zu gewinnen.
Nach seiner Machtübernahme 1982 aber machte Kohl kaum noch solche Avancen. Das intellektuelle Elend begann. Seine groß angekündigte „geistig-moralische Wende“, die bei konservativen Professoren und Publizisten und bei allen Gegnern von „68“ manche Hoffnung geweckt hatte, entpuppte sich ganz schnell als Sprechblase, von der seither allenfalls noch hämisch gesprochen wurde. Die einzige wirkliche geistig-moralische Bewegung trug eine andere Partei in die Gesellschaft: die Grünen. Zu Recht wird ihr Einzug in den Bundestag vor ziemlich genau 30 Jahren heute als historisch bedeutsamer betrachtet als Kohls gleichzeitiger Wahlsieg.
Statt der Denker wie Kurt Biedenkopf und dann Heiner Geißler, die den programmatischen Diskurs in der Union befeuerten, wurden die Einpeitscher zu Generalsekretären. Der bisherige Tiefpunkt dieses Niedergangs ist Ronald Pofallas Grundsatzprogramm von 2007.
In der Kohl-Zeit ragten in den Unionsparteien immerhin noch Männer wie Franz-Josef Strauß und Alfred Dregger aus der Uniformität des Kanzlerwahlvereins hervor. Keine theoretischen Denker, aber unbeugsame Köpfe voller politischer Leidenschaft, die keiner Grundsatzdebatte aus dem Weg gingen. Undenkbar, dass in der heutigen Union jemand sagte: "Die Demokratisierung der Gesellschaft ist der Beginn der Anarchie, das Ende der wahren Demokratie“ (Strauß). Undenkbar, dass heute noch ein CDU-Abgeordneter einen Aufsatz über das „Dilemma der Frontsoldaten“ schriebe, wie es Dregger 1995 tat.
Regieren ohne nachzudenken





Strauß und Dregger wurden von vielen Menschen abgelehnt, vor allem von linken Intellektuellen. Doch sie haben mit ihren tief verwurzelten klaren Überzeugungen dazu beigetragen, den politischen Diskurs in Deutschland lebendig zu halten. An Politikern wie Dregger und Strauß konnte man sich auf dem Fechtboden des Geistes schlagen. Heute erzeugt die CDU bei politisch bewegten Menschen nichts als Gleichgültigkeit. Die CDU der Gegenwart ist, wie die linksalternative TAZ kürzlich feststellte, „ins intellektuelle Wachkoma versunken.“
Nicht nur die Parteigremien, sondern auch die Konrad-Adenauer-Stiftung hält sich aus allem raus, was irgendwie mit einer offenen Diskussion der großen Zukunftsfragen des Landes und dem Versuch zu tun hat, die Antworten darauf zu prägen. Man lese nur die Veranstaltungshinweise auf der KAS-Website: „Was ist Heimat? Ein Talk mit Prominenten. Gesprächspartner: Leichtathlet Carlo Thränhardt“.
Die Parteien, so steht es sinnvollerweise in Artikel 21 des Grundgesetzes, “wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Die CDU ignoriert diese Aufforderung der Gründerväter unseres Staates konsequent – und das nach Kräften. Sie verpasst seit vielen Jahren jede Chance zur Willensbildung im Sinne ihrer weltanschaulichen Wurzeln – konservativ, christlich-sozial, liberal. Vor allem den Begriff des Konservativen ließ die Union ohne die geringste Gegenwehr zum Synonym für alles Spießige und Überlebte herabwürdigen. Dass konservatives Denken und Leben durchaus ihren Platz in der deutschen Gesellschaft behaupten, und man als Konservativer keineswegs auf verlorenem Posten steht, beweist eine Legion von Bestsellern: Peter Hahnes „Schluss mit lustig“ 82004), Bernhard Buebs „Lob der Disziplin“ (2006), Wolfram Weimers „Freiheit, Gleichheit, Bürgerlichkeit“ (2009), Jan Fleischhauers „Unter Linken“ (2009). Waren das nicht allesamt beste Vorlagen, um den Wählern zu zeigen, wie vernünftig und zeitgemäß der Konservativismus ist?
Stattdessen arbeiteten die Kommunikationsabteilungen unionsgeführter Ministerien lieber eifrig an einem anderen Projekt: Der Begriff „grün“ taucht seit einiger Zeit in unzähligen Projektbezeichnungen, Förderprogrammen und Informationsbroschüren der Bundesregierung auf. Die CDU hat dazu beigetragen, dass „grün“ mittlerweile ein Synonym für alles Gute ist. Ein CDU-geführtes Bundesministerium vergibt einen Preis für „Green Talents“ und in Frankfurt unterschrieb Petra Roth gar einen Koalitionsvertrag, der die „Green City“ zum Ziel erklärte. Die Grünen freuen sich, denn ihr Parteiname wird durch solche Begriffe gleichbedeutend mit „Die Guten“.
Deutschland
Regieren ohne nachzudenken. Eine Zeitlang mag das funktionieren. Eine Zeitlang kann eine politische Organisation auf Sicht fahren, wenn sie eine Angela Merkel an der Spitze hat, die den Laden pragmatisch zusammenhält, und genug Kauders und Pofallas, die bei jedem Kanzlerwort die Hacken zusammenschlagen, ohne Fragen zu stellen. Aber wenn eine Partei, die mal ein Vehikel für konservative, christlich-soziale und freiheitliche Überzeugungen und entsprechende politische Ziele war, nur noch eine leere Hülle ist, weil noch der letzte Rest vom einstigen Inhalt als Ballast abgeworfen wurde, fällt sie irgendwann in sich selbst zusammen. Warum sollte sich irgendein Mensch, abgesehen von der kleinen Elite der Berufspolitiker für das Gedeihen einer Partei interessieren, deren Sinn und Zweck einzig und allein der Machterhalt dieser Elite ist? Wer klebt für sie noch Plakate? Wer wird ihr eine Träne nachweinen?
Selbstverständlich könnte man einen ähnlichen Artikel auch über andere Parteien schreiben.