Der Frust sitzt tief. „Wir müssen uns endlich damit beschäftigen, wie die Partei mehr sein kann als nur…“ Pause. „… nichts.“ So klingen kurz vor dem CDU-Sonderparteitag am Montag in Berlin Leute aus dem Vorstand. Konservative wie Wirtschaftspolitiker, aber auch Liberale in der CDU sind vor Beginn der wohl vierten Regierung unter Parteichefin und Kanzlerin Angela Merkel denkbar unzufrieden. Die Mehrheit der Delegierten wird dem Vertrag mit den Sozialdemokraten für eine dritte schwarz-rote Bundeskoalition unter Merkel zustimmen.
Doch gekittet sind die Risse zwischen der Chefin und ihrer eigentlich pflegeleichten Partei nicht. Offiziell soll es beim Sonderparteitag um den Koalitionsvertrag und eine Neuauflage der GroKo gehen. Doch längst geht es auch um eine Neuaufstellung der Partei, um den Groll vieler Mitglieder gegen die Inhaltsleere und um gut hörbare Forderungen nach einer Erneuerung für die Zeit nach Merkel.
Von Aufbruch und neuen Ideen fürs Christdemokratische ist allerdings noch wenig zu spüren. Die Kanzlerin zeige eine gewisse Erschöpfung im Amt, sagen Kritiker von allen Flügeln der Partei. Zugleich habe sie es über die Jahre geschafft, Posten im Kabinett, der Fraktion und in der Partei so zu besetzen, dass kein Kraftfeld gegen sie und zur Erneuerung mehr vorhanden sei. Merkels Entscheidungen verliefen oft nach dem Prinzip Zufall oder Extremfall und weniger nach dem Prinzip Haltung: Das war so beim Atomausstieg, bei der Eurorettung, bei der Abschaffung der Wehrpflicht und vor allem bei der Grenzöffnung für Flüchtlinge.
Angela Merkel bringt mit Jens Spahn zwar einen ihrer größten Kritiker und Anführer der Konservativen ins Kabinett: Gesundheitsminister soll der 37-Jährige werden. Doch das kleinteilige Ressort inmitten mächtiger Interessengruppen bietet wenig Raum für große Debatten und positive Profilierung. „Höchststrafe Gesundheitsminister“, lästern schon Unterstützer und Kritiker Spahns in der CDU.
Den Frauen und den Rufern nach Modernisierung kam Merkel mit der Benennung der Bildungsministerin entgegen. Noch eine Münsterländerin wie Spahn: Anja Karliczek ist bisher parlamentarische Geschäftsführerin ihrer Fraktion im Bundestag. Sie ist Bankkauffrau und Hotelkauffrau, hat Betriebswirtschaft studiert. Für die 46-Jährige spricht, dass sie sich schnell einarbeitet und zwischen Positionen vermitteln kann, dass sie eine Frau ist und aus NRW kommt.
Merkel wollte die Hälfte der Ministerposten der CDU mit Frauen besetzen, der Landesverband beanspruchte zwei Ministerposten. Schließlich habe NRW bei der Bundestagswahl mehr Stimmen für die Union gebracht als die gesamte CSU, hieß es in den letzten Tagen immer wieder. Da passte der Name Karliczek.
Der bisherige Kanzleramtsminister Peter Altmaier soll das Wirtschaftsressort übernehmen und – so Merkel – „das Ministerium Ludwig Erhards“ mit Ideen fürs 21. Jahrhundert füllen. Er soll es auch auf Augenhöhe zum Finanzministerium halten. Doch bisher ist der 59-Jährige mehr als Makler für alle kleinen und großen Konflikte aufgefallen denn als Ideengeber für eine neue soziale Marktwirtschaft.
Der Hesse Helge Braun soll Kanzleramtsminister werden. Zudem soll der 45-Jährige den Kabinettsausschuss zum Thema Digitalisierung koordinieren. Merkel gesteht an diesem Punkt ein, dass so der Mangel gelindert werden soll, dass das zentrale Thema doch wieder über „mehrere Ressorts verstreut“ bleibt und sich im klein-klein zu verlieren droht.
Soziale Marktwirtschaft aus CDU-Sicht?
Trotz der Personalien, die den CDU-Parteitag beruhigen sollen, treten drei Konflikte zu Tage, die unter Merkel wohl nicht mehr gelöst werden.
Die Konservativen grämen sich, dass die Union irgendwo in einer breiigen Mitte schwimmt, ohne klare Weltanschauung und Feindbilder. Was können wir der AfD entgegenhalten, fragen sie. Wie können wir die bestärken, die traditionell leben und denken?
Der Wirtschaftsflügel fragt sich – nicht ganz unverschuldet – was soziale Marktwirtschaft aus CDU-Sicht überhaupt noch ist. Wie sich zum Beispiel die Digitalisierung als Siegerthema vermitteln lässt. Die CDU war mal eine optimistische Partei, wenn es um technische Modernisierung ging. Heute? Eine Leerstelle.
Schließlich bleibt der Konflikt, der Merkel am deutlichsten geschwächt hat: Ihre Flüchtlingspolitik und der Widerstand dagegen in den eigenen Reihen. Bis zu ihrer Entscheidung zur Grenzöffnung 2015 regierte sie quasi als Präsidentin, die ihren Wählern Sicherheit und Orientierung in einer unübersichtlichen Welt versprach. Fortan jedoch lieferte sie die Wähler in den Augen ihrer Kritiker selbst der Unsicherheit aus und machte ihr ganzes Regierungsmodell angreifbar.
Merkel hat am Sonntagabend bei der Vorstellung der CDU-Namen für ein Bundeskabinett dennoch ein Stück Orientierung versprochen. Bis zum nächsten regulären Bundesparteitag im Dezember solle die künftige CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer eine „Neuausrichtung der sozialen Marktwirtschaft“ vorstellen. Doch blieb sie jedes Detail einer solchen modernisierten Denkweise schuldig.