Chaos um Impfpflicht „Wer sich nicht impfen lassen möchte, sollte die Behandlung mitbezahlen“

Der Präsident des Bundesozialgerichts Rainer Schlegel sieht noch viele ungeklärte Fragen bei der Impfpflicht für Pflegepersonal, die ab März kommen soll. Quelle: imago images

Das Kümmern des Staates ist für viele Menschen selbstverständlich geworden, kritisiert Deutschlands oberster Sozialrichter Rainer Schlegel. Er fordert, Ungeimpfte zur Kasse zu bitten – Raucher hingegen nicht.         

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Prof. Dr. Rainer Schlegel ist Präsident des Bundessozialgerichts, das seinen Sitz in Kassel hat. Schlegel ist CDU-Mitglied, sein wissenschaftliches Interesse gilt den Fragen der sozialer Sicherheit, der Solidarität in der Gesellschaft und dem Umgang des Staates mit seinen Bürgern.  

Herr Schlegel, Sie sind Deutschlands oberster Sozialrichter. Wie ist Ihre Zwischenbilanz nach zwei Jahren Pandemie: Verhalten sich die Deutschen in der Coronakrise sozial – oder asozial?
Ich sehe einen deutlichen Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Jahr. Als es noch keinen Impfstoff gab, war das Solidargefühl deutlich spürbar, der Großteil der Menschen hat sich in den Lockdowns an die Regeln gehalten, versucht, einen ganz persönlichen Beitrag dafür zu leisten, dass die Krise möglichst gut bewältigt wird.

Und im zweiten Corona-Jahr?
Als es Ende 2020 einen wirksamen Impfstoff gab, hätte ich eine große Dankbarkeit erwartet. Dass jeder versucht, diesen Impfstoff zu bekommen, um sich selbst, aber auch andere Menschen zu schützen. Das hat zwar auch die Mehrheit der Deutschen getan…

…fast 75 Prozent der Bevölkerung sind vollständig geimpft.
Ja, aber jetzt gibt es eben kaum noch Fortschritte. Und diese Zögerlichkeit, teils auch Verweigerung gegen eine Impfung, hätte ich nicht erwartet.

Wie erklären Sie sich das Verhalten der rund 20 Millionen Ungeimpften?
Das Kümmern des Staates ist für viele in Deutschland selbstverständlich geworden. Nehmen wir mal die Testzentren, da steht überall „kostenlose Tests“ drüber – aber diese Infrastruktur kostet die Solidargemeinschaft freilich Milliarden Euro. Auch für die Impfung muss kein Geld bezahlt werden, ebenso werden Ungeimpfte mit schweren Verläufen auf der Intensivstation ohne Zuzahlung behandelt, obwohl so ein Fall zwischen 60.000 und 200.000 Euro kosten kann, da sind die Rehabilitationskosten noch nicht mal eingerechnet. Das sind wirtschaftliche Folgekosten, die bisher leider kein Thema sind.

Rainer Schlegel, Präsident am Bundessozialgericht Quelle: Bundessozialgericht/Picture People Kassel

Sollten die Kosten also anders berücksichtigt werden?
Für einen Corona-Patienten, dessen Behandlung 200.000 Euro kostet, müssen ein Beschäftigter mit einem Durchschnittseinkommen und sein Arbeitgeber rund 34 Jahre lang Beiträge einzahlen. Dabei können solche schweren Verläufe durch eine Impfung mit hoher Wahrscheinlichkeit vermieden werden. Wer sich nicht impfen lassen möchte, obwohl dem medizinisch nichts entgegensteht, wird selbstverständlich bestmöglich behandelt, sollte aber die Kosten der Behandlung zumindest zu einem gewissen Teil mittragen müssen.

Gestaffelt nach Einkommensverhältnissen?
Das wäre denkbar. Wer viel verdient, zahlt mehr, bei einem niedrigeren Einkommen würde die Selbstbeteiligung geringer ausfallen. Aber so hat jeder potenzielle Patient ein Preisschild vor Augen und kann sich dann überlegen, ob er lieber die kostenlose Impfung nimmt oder die Behandlungskosten im Fall eines schweren Verlaufs tragen möchte.

Stefan Dräger, Chef des gleichnamigen Beatmungsgeräte-Herstellers, geht noch weiter. Wer eine Impfung ablehne, der soll auf die Behandlung im Krankenhaus verzichten, fordert er im „Welt“-Interview. Ist das ein guter Vorschlag?
Nein, das ist mit meinen ethischen Vorstellungen nicht zu vereinbaren. Das käme zudem einem Rauswurf aus der Versicherung gleich. Wir sind ja zurecht stolz auf unserer Gesundheitssystem, weil es eben keine Rolle spielt, ob jemand arm ist oder reich, klug ist oder sich unklug verhält. Jeder gesetzlich Versicherte bekommt die gleiche Behandlung. Aber eine Kostenbeteiligung der Ungeimpften halte ich im Sinne der Solidargemeinschaft durchaus für vertretbar.

Welche Wege sehen Sie, um Ungeimpfte zur Kasse zu bitten?
Schon jetzt ist im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung geregelt, dass derjenige Versicherte, der sich beispielsweise einer Schönheitsoperation unterzieht, sich tätowieren oder piercen lässt, an den Kosten einer Behandlung zu beteiligen ist, wenn etwas schief geht.

Manche Menschen werden dann aber sagen, dass auch Raucher und Extremsportler höhere Beiträge oder Behandlungskosten zahlen müssen.
Die Sache liegt hier etwas anders. Wenn beispielsweise ein Raucher erkrankt, ist es im Einzelfall schwer zu sagen, welche Rolle dabei tatsächlich das Rauchen gespielt hat. Vielleicht war ein genetischer Defekt ausschlaggebend oder Umwelteinflüsse, da kann man die Frage nach der Ursache selten eindeutig beantworten.

Und bei einem Extremsportler?
Anders sieht es dagegen bei einem Extremsportler aus. Wenn jemand Fallschirm springt und sich bei einer harten Landung das Bein bricht, ist die Ursache offensichtlich. Solche Sportunfälle könnten privat abgesichert werden. Insoweit kann jeder selbst entscheiden, was ihm das Hobby wert ist.

Corona ist dagegen kein privates Vergnügen. Wird eine Beteiligung an den Behandlungskosten mehr Menschen zum Impfen bringen als die Androhung einer Impfpflicht?
Ja, davon gehe ich aus. Wenn’s ans eigene Portemonnaie geht, werden manche vielleicht noch ins Grübeln kommen.

Aber entstehen dadurch nicht neue Ungerechtigkeiten: Wer es sich als Impfgegner leisten kann, bleibt ungeimpft?
Nein, denn ich plädiere für eine nach Einkommen gestaffelte Beteiligung. Spürbar sollte die Beteiligung aber sein, denn sonst hat sie keinen Effekt. Aber Politik und Krankenkassen schrecken vor solchen Debatten zurück, offenbar aus Sorge, Wähler oder Kunden zu verprellen. Dabei hat sich die große Mehrheit in Deutschland impfen lassen. Im Sinne der Solidargemeinschaft dürfte es also gewünscht sein, über solche Möglichkeiten nachzudenken.

Wer müsste eine solche Beteiligung an den Behandlungskosten umsetzen?
Das müsste über die Krankenkassen laufen, die ja die Rechnung vom Krankenhaus bekommen. Allerdings wäre das sicherlich mit einigem bürokratischen Aufwand verbunden, denn ob jemand geimpft ist oder nicht, muss erstmal mühsam überprüft werden. Deshalb wäre es auch gut, wenn wir in Deutschland ein Impfregister einführen würden.

Wäre ein Impfregister mit dem Datenschutz vereinbar?
In Österreich gibt es ein Impfregister, und auch dort gilt die europäische Datenschutzgrundverordnung.

Ohne ein Impfregister dürfte auch die allgemeine Impfpflicht kaum wirksam umzusetzen sein. Ob sie nach der Omikron-Welle überhaupt noch notwendig ist, ist derzeit sehr umstritten. Was empfehlen Sie?
Ich plädiere dafür, jetzt ein Rahmengesetz für eine solche Pflicht zu schaffen. Denn welche Virusvariante als nächstes kommt, ist ungewiss – wir sollten aber darauf vorbereitet sein. Wenn beispielsweise im nächsten Herbst eine gefährlichere Lage eintritt, sollten wir nicht wieder von vorne diskutieren müssen und erneut viel Zeit verlieren. 

Das heißt? 
Es sollte jetzt der gesetzliche Rahmen geschaffen werden für eine Impfpflicht, die dann im Bedarfsfall durch eine Rechtsverordnung der Bundesregierung angeordnet, das Gesetz also quasi „scharfgestellt“ wird. Das wäre vorausschauende Politik.

Unklar ist auch, ob die Impfpflicht für Pflegekräfte umgesetzt werden kann. Das Bundesverfassungsgericht hat am Freitag die Eilanträge von Betroffenen abgelehnt. Wie groß ist die Unsicherheit? 
Wir erleben gerade ein großes Wirrwarr, das für die Menschen nicht mehr nachvollziehbar ist. Die Impfpflicht für Pflegekräfte wurde von Bund und Ländern in großer Einigkeit beschlossen – aber offenbar wurden viele wichtige Fragen nicht zu Ende gedacht. 

Beispielsweise welche? 
Hat der Arbeitgeber Ungeimpften gegenüber ein Kündigungsrecht? Gibt es für sie eine Lohnfortzahlung? Ist jemand, der wegen der Pflicht selbst kündigt und nicht sofort eine neue Stelle findet, für das Arbeitslosengeld gesperrt? Das muss jetzt geklärt werden.

Die Pflicht soll ab dem 15. März gelten, bis dahin sind es aber nur noch wenige Wochen.
Falls sich die Umsetzungsfragen bis dahin nicht lösen lassen können, können Bundestag und Bundesrat beschließen, das Inkrafttreten noch einmal aufzuschieben, um solche Fragen zu klären. Was aber sicher nicht geht: Dass einzelne Länder jetzt ausscheren. Auch sie sind an die Gesetze gebunden, die Gesetzesbindung ist wesentlicher Bestandteil unseres Rechtsstaats.

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Gefährdet Bayerns Ministerpräsident Markus Söder also gerade den Rechtsstaat?
Nein, soweit würde ich nicht gehen. Aber ein solches Verhalten fördert sicher nicht das Vertrauen in unsere Institutionen. Leider zieht sich Vielstimmigkeit durch die ganze Pandemie. Sicher gehören Diskussionen zur Demokratie, aber irgendwann muss man sich dann auf einen klaren Kurs einigen, der einer Solidargemeinschaft dann auch Orientierung gibt. Ich hoffe, dass das jetzt bei der nächsten MPK am Mittwoch auch passiert.

Mehr zum Thema: In Pflege- und Gesundheitsberufen gilt bald die Impfpflicht. Eine Arbeitsrechtlerin erklärt, wer auf Ausnahmen hoffen darf – und warum den Gesundheitsämtern eine Klagewelle droht.

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